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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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aller in: strengsten Sinne modernen edlen literarischen Bewegungen in Deutsch¬
land. Er hat sogar einen ganz neuen Stil sich geschaffen, wie in solcher Kühn¬
heit und Kunst kein anderer ihn besitzt. Er debütirte mit einer urneuen Taktik.
Der junge Titan warf nicht Felsen gegen den Olymp, wohl aber Felsenblöcke
und Quadern auf den damaligen Parnaß. Er erlegte Hunderte und wieder
Hunderte von Dichterpygmäen. Und immer verwegener, unternehmender wurde
unser Schleuderer und Bogenschütz. Er hatte kein Hehl zu rufen: Wenn ich
einmal schaffe, dann --! Nun aber warf er von seiner Höhe ein ganzes
Sternengestöber, einen ganzen Strahlenregen von nie bis dahin erschauten
Sphären herunter in die Erdennacht der deutschen Philister und Nachtwächter,
die trotz aller umgehenden Ueberwachung nach Stunde und Minute noch nie
etwas von einem Stern am Himmel gemerkt hatten, sonst hätten sie Feuer
gerufen und geendet. Er aber zauberte Welten auf Welten, und zwar Novellen,
Romane, darunter zwei Romane, die schon für sich zwei Weltsysteme sind (!!),
Dramen, Charakterbilder, wie sie noch nie (!) ein Maler gezeichnet hat, außer¬
dem die kleinen Satelliten und Asteroiden von publicistischen Einzelschrifteu,
Broschüren, Beiträgen zur Literatur, Reiseskizzen, Journalen. Das was ihn,
den Unvergeßlichen, noch besonders auszeichnet, ist, daß er sich nie den Leser¬
massen akkomodirt, nie ihnen zu Munde gesprochen, er dem Zeitwinde nie
sich geduckt hat, nie vom Hochpunkt seiner außerordentlichen Bildung, seiner
Gedankenfülle auch uur einen Schritt gewichen ist!" Wir rechten mit dem Ver¬
fasser um den einzelnen Ausdruck nicht, obschon es unzweifelhaft komisch erscheint,
daß Jung von Dichterpygmäen spricht, die durch den jugendlichen Gutzkow er¬
legt worden, und in der Einleitung zu seinem Buche Ludwig Tieck, einen dieser
vermeintlich "erlegten" in den Augen der Jungdeutschen armseligsten "Pygmäen"
feiert! Wir müssen die Grundanschauung bekämpfen. Ohne ein einziges Verdienst
Gutzkows in Abrede stellen oder schmälern zu wollen, Protestiren wir ent¬
schieden und unbedingt dagegen, daß uns die durch ihn vertretene Mischung von
Darstellung und Reflexion, von pnblieistischen und poetischen Aufgaben, diese
Abhängigkeit der Kunst von jeder Laune jedes Augenblicks, jeder zufälligen
"Strömung" des Zeitgeistes wiederum als mustergiltig und nachahmungswürdig
gepriesen werde. Ein andres ist es, den Absichten und dem Talent eines Autors
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, seine Mängel aus den Eindrücken der Zeit
zu erklären -- ein andres, ihn der kommenden Literatur als Vorbild und Weg¬
zeiger hinzustellen. Wenn es sich nur darum handelt, festzustellen, daß Gutzkow
an Bildung, Geist und Wollen ein gewisses modernes Feuilletouisteuproletariat,
das er gleichwohl selbst großziehen helfen, hoch überragt habe, so hätte sich der
Verfasser der "Modernen Zustände" viel Athem sparen können. Wenn aber von
der Existenz eines verächtlichen Naturalismus, der nicht einmal naturalistisch,


aller in: strengsten Sinne modernen edlen literarischen Bewegungen in Deutsch¬
land. Er hat sogar einen ganz neuen Stil sich geschaffen, wie in solcher Kühn¬
heit und Kunst kein anderer ihn besitzt. Er debütirte mit einer urneuen Taktik.
Der junge Titan warf nicht Felsen gegen den Olymp, wohl aber Felsenblöcke
und Quadern auf den damaligen Parnaß. Er erlegte Hunderte und wieder
Hunderte von Dichterpygmäen. Und immer verwegener, unternehmender wurde
unser Schleuderer und Bogenschütz. Er hatte kein Hehl zu rufen: Wenn ich
einmal schaffe, dann —! Nun aber warf er von seiner Höhe ein ganzes
Sternengestöber, einen ganzen Strahlenregen von nie bis dahin erschauten
Sphären herunter in die Erdennacht der deutschen Philister und Nachtwächter,
die trotz aller umgehenden Ueberwachung nach Stunde und Minute noch nie
etwas von einem Stern am Himmel gemerkt hatten, sonst hätten sie Feuer
gerufen und geendet. Er aber zauberte Welten auf Welten, und zwar Novellen,
Romane, darunter zwei Romane, die schon für sich zwei Weltsysteme sind (!!),
Dramen, Charakterbilder, wie sie noch nie (!) ein Maler gezeichnet hat, außer¬
dem die kleinen Satelliten und Asteroiden von publicistischen Einzelschrifteu,
Broschüren, Beiträgen zur Literatur, Reiseskizzen, Journalen. Das was ihn,
den Unvergeßlichen, noch besonders auszeichnet, ist, daß er sich nie den Leser¬
massen akkomodirt, nie ihnen zu Munde gesprochen, er dem Zeitwinde nie
sich geduckt hat, nie vom Hochpunkt seiner außerordentlichen Bildung, seiner
Gedankenfülle auch uur einen Schritt gewichen ist!" Wir rechten mit dem Ver¬
fasser um den einzelnen Ausdruck nicht, obschon es unzweifelhaft komisch erscheint,
daß Jung von Dichterpygmäen spricht, die durch den jugendlichen Gutzkow er¬
legt worden, und in der Einleitung zu seinem Buche Ludwig Tieck, einen dieser
vermeintlich „erlegten" in den Augen der Jungdeutschen armseligsten „Pygmäen"
feiert! Wir müssen die Grundanschauung bekämpfen. Ohne ein einziges Verdienst
Gutzkows in Abrede stellen oder schmälern zu wollen, Protestiren wir ent¬
schieden und unbedingt dagegen, daß uns die durch ihn vertretene Mischung von
Darstellung und Reflexion, von pnblieistischen und poetischen Aufgaben, diese
Abhängigkeit der Kunst von jeder Laune jedes Augenblicks, jeder zufälligen
„Strömung" des Zeitgeistes wiederum als mustergiltig und nachahmungswürdig
gepriesen werde. Ein andres ist es, den Absichten und dem Talent eines Autors
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, seine Mängel aus den Eindrücken der Zeit
zu erklären — ein andres, ihn der kommenden Literatur als Vorbild und Weg¬
zeiger hinzustellen. Wenn es sich nur darum handelt, festzustellen, daß Gutzkow
an Bildung, Geist und Wollen ein gewisses modernes Feuilletouisteuproletariat,
das er gleichwohl selbst großziehen helfen, hoch überragt habe, so hätte sich der
Verfasser der „Modernen Zustände" viel Athem sparen können. Wenn aber von
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[0420] aller in: strengsten Sinne modernen edlen literarischen Bewegungen in Deutsch¬ land. Er hat sogar einen ganz neuen Stil sich geschaffen, wie in solcher Kühn¬ heit und Kunst kein anderer ihn besitzt. Er debütirte mit einer urneuen Taktik. Der junge Titan warf nicht Felsen gegen den Olymp, wohl aber Felsenblöcke und Quadern auf den damaligen Parnaß. Er erlegte Hunderte und wieder Hunderte von Dichterpygmäen. Und immer verwegener, unternehmender wurde unser Schleuderer und Bogenschütz. Er hatte kein Hehl zu rufen: Wenn ich einmal schaffe, dann —! Nun aber warf er von seiner Höhe ein ganzes Sternengestöber, einen ganzen Strahlenregen von nie bis dahin erschauten Sphären herunter in die Erdennacht der deutschen Philister und Nachtwächter, die trotz aller umgehenden Ueberwachung nach Stunde und Minute noch nie etwas von einem Stern am Himmel gemerkt hatten, sonst hätten sie Feuer gerufen und geendet. Er aber zauberte Welten auf Welten, und zwar Novellen, Romane, darunter zwei Romane, die schon für sich zwei Weltsysteme sind (!!), Dramen, Charakterbilder, wie sie noch nie (!) ein Maler gezeichnet hat, außer¬ dem die kleinen Satelliten und Asteroiden von publicistischen Einzelschrifteu, Broschüren, Beiträgen zur Literatur, Reiseskizzen, Journalen. Das was ihn, den Unvergeßlichen, noch besonders auszeichnet, ist, daß er sich nie den Leser¬ massen akkomodirt, nie ihnen zu Munde gesprochen, er dem Zeitwinde nie sich geduckt hat, nie vom Hochpunkt seiner außerordentlichen Bildung, seiner Gedankenfülle auch uur einen Schritt gewichen ist!" Wir rechten mit dem Ver¬ fasser um den einzelnen Ausdruck nicht, obschon es unzweifelhaft komisch erscheint, daß Jung von Dichterpygmäen spricht, die durch den jugendlichen Gutzkow er¬ legt worden, und in der Einleitung zu seinem Buche Ludwig Tieck, einen dieser vermeintlich „erlegten" in den Augen der Jungdeutschen armseligsten „Pygmäen" feiert! Wir müssen die Grundanschauung bekämpfen. Ohne ein einziges Verdienst Gutzkows in Abrede stellen oder schmälern zu wollen, Protestiren wir ent¬ schieden und unbedingt dagegen, daß uns die durch ihn vertretene Mischung von Darstellung und Reflexion, von pnblieistischen und poetischen Aufgaben, diese Abhängigkeit der Kunst von jeder Laune jedes Augenblicks, jeder zufälligen „Strömung" des Zeitgeistes wiederum als mustergiltig und nachahmungswürdig gepriesen werde. Ein andres ist es, den Absichten und dem Talent eines Autors Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, seine Mängel aus den Eindrücken der Zeit zu erklären — ein andres, ihn der kommenden Literatur als Vorbild und Weg¬ zeiger hinzustellen. Wenn es sich nur darum handelt, festzustellen, daß Gutzkow an Bildung, Geist und Wollen ein gewisses modernes Feuilletouisteuproletariat, das er gleichwohl selbst großziehen helfen, hoch überragt habe, so hätte sich der Verfasser der „Modernen Zustände" viel Athem sparen können. Wenn aber von der Existenz eines verächtlichen Naturalismus, der nicht einmal naturalistisch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/420>, abgerufen am 25.08.2024.