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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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der Literatur, zur Schöpfung von Werken bei, welche eine nachhaltige, läuternde
und erhebende Wirkung haben.

In dieser letzten Anschauung begegnen wir uns mit dem grundehrlichen,
tiefwohlmeinenden Autor eines Buches: "ModerneZnstände" von Alexan¬
der Jung (Rostock, Wilhelm Werthers Verlag, 1880), der in einer Reihe von
Abhandlungen -- ein wenig kraus und hastig -- nach einer Ouvertüre: "Ein
Abend bei Ludwig Tieck in Dresden" eine ganze Anzahl von wichtigen gesell¬
schaftlichen und literarischen Fragen bespricht. Ueber "das Gründerwesen, den
Weltkrach und die Kunst", über "die Reclame, die Mystification und das Todt-
schweigen", über "Galoppirende Schwindsucht der Seele und des Geistes auf
dem Gebiete der Presse", über "die Monstre-Misere und Confusion in der laufen¬
den deutschen Literatur", über "Herabwürdigung geistiger Werke durch bloße
Genuß- und Nützlichkeitsmenschen," über "die Gefahren, welche gegenwärtig der
deutschen Literatur drohen", lesen wir eine Menge guter, zum Theil schwer¬
wiegender Aussprüche, beruhend auf mannigfachen Beobachtungen und verklärt
von einer so reinen Ueberzeugung von der Macht und Würde der Literatur,
einer so unegoistischen Hingabe an Leben und Streben Anderer, daß wir um
so tiefer beklagen müssen, mit dem Autor dieses Buches wohl in vielen Voraus¬
setzungen, aber wahrlich nicht in den Consequenzen eins zu sein. Jungs "Mo¬
derne Zustände" berühren noch andere als die literarischen Gebiete. Ueberall
erhalten wir aus seinen Anschauungen und Urtheilen den Eindruck einer reinen,
wohlmeinenden, unterrichteten und feinsinnigen Natur. Was er über Briefe
und Correspondenzkarten plaudert, was er ernst über den bethörten Leichtsinn
der Gegenwart in Bezug auf den Tod sagt, selbst die überreizte und hypo¬
chondrische Phantasie von einer großen epidemischen Verrücktheit in beiden Hemi¬
sphären, einer Phantasie, der gewiß lebendige Eindrücke zu Gründe liegen, alles
belegt, daß wir es mit einem Selbstdenker, Selbstbeobachter zu thun haben.
Auch in den literarischen Darlegungen des Buches würden wir Seite für
Seite unterschreiben können. Aber die letzten Forderungen und Anschauungen
des Verfassers können wir nicht theilen.

"Soviel ist gewiß," heißt es bei Jung, "was unsere Gegenwart betrifft, es
muß mit der Bildung, mit dem Geschmacke, mit der Intelligenz des Massen¬
publikums heute schlecht aussehen, es muß verwahrlost genug sein, wenn es so
roh ist, wenn es sich untersteht und erfrecht, auch jetzt wieder in jedem Autor
am liebsten nur einen Zotenreißer für Geld, einen Gaukler, Haus-Narren,
Lustigmacher, Bedienten für solche Herrschaft zu sehen. Es "ist die gröbste
Beleidigung schon des Talents, nun gar des Genies. Wer hat aber Schuld
an der jetzt vorherrschenden Misere? Drei haben Schuld -- erstens: die Schrift¬
steller ohne Beruf, also die ephemeren Scribler; zweitens: die schlechten ge-


der Literatur, zur Schöpfung von Werken bei, welche eine nachhaltige, läuternde
und erhebende Wirkung haben.

In dieser letzten Anschauung begegnen wir uns mit dem grundehrlichen,
tiefwohlmeinenden Autor eines Buches: „ModerneZnstände" von Alexan¬
der Jung (Rostock, Wilhelm Werthers Verlag, 1880), der in einer Reihe von
Abhandlungen — ein wenig kraus und hastig — nach einer Ouvertüre: „Ein
Abend bei Ludwig Tieck in Dresden" eine ganze Anzahl von wichtigen gesell¬
schaftlichen und literarischen Fragen bespricht. Ueber „das Gründerwesen, den
Weltkrach und die Kunst", über „die Reclame, die Mystification und das Todt-
schweigen", über „Galoppirende Schwindsucht der Seele und des Geistes auf
dem Gebiete der Presse", über „die Monstre-Misere und Confusion in der laufen¬
den deutschen Literatur", über „Herabwürdigung geistiger Werke durch bloße
Genuß- und Nützlichkeitsmenschen," über „die Gefahren, welche gegenwärtig der
deutschen Literatur drohen", lesen wir eine Menge guter, zum Theil schwer¬
wiegender Aussprüche, beruhend auf mannigfachen Beobachtungen und verklärt
von einer so reinen Ueberzeugung von der Macht und Würde der Literatur,
einer so unegoistischen Hingabe an Leben und Streben Anderer, daß wir um
so tiefer beklagen müssen, mit dem Autor dieses Buches wohl in vielen Voraus¬
setzungen, aber wahrlich nicht in den Consequenzen eins zu sein. Jungs „Mo¬
derne Zustände" berühren noch andere als die literarischen Gebiete. Ueberall
erhalten wir aus seinen Anschauungen und Urtheilen den Eindruck einer reinen,
wohlmeinenden, unterrichteten und feinsinnigen Natur. Was er über Briefe
und Correspondenzkarten plaudert, was er ernst über den bethörten Leichtsinn
der Gegenwart in Bezug auf den Tod sagt, selbst die überreizte und hypo¬
chondrische Phantasie von einer großen epidemischen Verrücktheit in beiden Hemi¬
sphären, einer Phantasie, der gewiß lebendige Eindrücke zu Gründe liegen, alles
belegt, daß wir es mit einem Selbstdenker, Selbstbeobachter zu thun haben.
Auch in den literarischen Darlegungen des Buches würden wir Seite für
Seite unterschreiben können. Aber die letzten Forderungen und Anschauungen
des Verfassers können wir nicht theilen.

„Soviel ist gewiß," heißt es bei Jung, „was unsere Gegenwart betrifft, es
muß mit der Bildung, mit dem Geschmacke, mit der Intelligenz des Massen¬
publikums heute schlecht aussehen, es muß verwahrlost genug sein, wenn es so
roh ist, wenn es sich untersteht und erfrecht, auch jetzt wieder in jedem Autor
am liebsten nur einen Zotenreißer für Geld, einen Gaukler, Haus-Narren,
Lustigmacher, Bedienten für solche Herrschaft zu sehen. Es „ist die gröbste
Beleidigung schon des Talents, nun gar des Genies. Wer hat aber Schuld
an der jetzt vorherrschenden Misere? Drei haben Schuld — erstens: die Schrift¬
steller ohne Beruf, also die ephemeren Scribler; zweitens: die schlechten ge-


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[0417] der Literatur, zur Schöpfung von Werken bei, welche eine nachhaltige, läuternde und erhebende Wirkung haben. In dieser letzten Anschauung begegnen wir uns mit dem grundehrlichen, tiefwohlmeinenden Autor eines Buches: „ModerneZnstände" von Alexan¬ der Jung (Rostock, Wilhelm Werthers Verlag, 1880), der in einer Reihe von Abhandlungen — ein wenig kraus und hastig — nach einer Ouvertüre: „Ein Abend bei Ludwig Tieck in Dresden" eine ganze Anzahl von wichtigen gesell¬ schaftlichen und literarischen Fragen bespricht. Ueber „das Gründerwesen, den Weltkrach und die Kunst", über „die Reclame, die Mystification und das Todt- schweigen", über „Galoppirende Schwindsucht der Seele und des Geistes auf dem Gebiete der Presse", über „die Monstre-Misere und Confusion in der laufen¬ den deutschen Literatur", über „Herabwürdigung geistiger Werke durch bloße Genuß- und Nützlichkeitsmenschen," über „die Gefahren, welche gegenwärtig der deutschen Literatur drohen", lesen wir eine Menge guter, zum Theil schwer¬ wiegender Aussprüche, beruhend auf mannigfachen Beobachtungen und verklärt von einer so reinen Ueberzeugung von der Macht und Würde der Literatur, einer so unegoistischen Hingabe an Leben und Streben Anderer, daß wir um so tiefer beklagen müssen, mit dem Autor dieses Buches wohl in vielen Voraus¬ setzungen, aber wahrlich nicht in den Consequenzen eins zu sein. Jungs „Mo¬ derne Zustände" berühren noch andere als die literarischen Gebiete. Ueberall erhalten wir aus seinen Anschauungen und Urtheilen den Eindruck einer reinen, wohlmeinenden, unterrichteten und feinsinnigen Natur. Was er über Briefe und Correspondenzkarten plaudert, was er ernst über den bethörten Leichtsinn der Gegenwart in Bezug auf den Tod sagt, selbst die überreizte und hypo¬ chondrische Phantasie von einer großen epidemischen Verrücktheit in beiden Hemi¬ sphären, einer Phantasie, der gewiß lebendige Eindrücke zu Gründe liegen, alles belegt, daß wir es mit einem Selbstdenker, Selbstbeobachter zu thun haben. Auch in den literarischen Darlegungen des Buches würden wir Seite für Seite unterschreiben können. Aber die letzten Forderungen und Anschauungen des Verfassers können wir nicht theilen. „Soviel ist gewiß," heißt es bei Jung, „was unsere Gegenwart betrifft, es muß mit der Bildung, mit dem Geschmacke, mit der Intelligenz des Massen¬ publikums heute schlecht aussehen, es muß verwahrlost genug sein, wenn es so roh ist, wenn es sich untersteht und erfrecht, auch jetzt wieder in jedem Autor am liebsten nur einen Zotenreißer für Geld, einen Gaukler, Haus-Narren, Lustigmacher, Bedienten für solche Herrschaft zu sehen. Es „ist die gröbste Beleidigung schon des Talents, nun gar des Genies. Wer hat aber Schuld an der jetzt vorherrschenden Misere? Drei haben Schuld — erstens: die Schrift¬ steller ohne Beruf, also die ephemeren Scribler; zweitens: die schlechten ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/417>, abgerufen am 23.07.2024.