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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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zuHolm hatte. Zur nächtlichen Lagerstätte (ich darf nicht sagen Ruhestätte, da
hier an eine wahre, erquickende Ruhe nicht zu denken war) hatte ich, da Läufe
an den Wänden hinausliefen, den Korb benutzt, in welchem ich am Tage die
mit Bouillon gefüllten hölzernen Gefäße abholte. Ich hatte den Korb auf
Steine gesetzt. Jeden Morgen, nachdem ich mich von dieser Lagerstätte empor-
und heruntergewühlt hatte, trug ich aus den Wohnungen der Aerzte meinen
leidenden Brüdern die Arzneimittel zu. Wie gern erwies ich den Schmerz- und
Jammerbelasteteu diesen Dienst der Menschlichkeit! Wie sehr wünschte ich bei
jeder Rückkehr in ihre grauenvolle Mitte, daß aus den Medieingläsern, mit
denen ich bepackt war, Linderung, Erquickung und Leben über die sehnsüchtig,
zum Theil mit schon halb gebrochenen Herzen und fast schon zum Todesschlafe
geschlossenen Augen auf mich wartenden ausgegossen werden möchte! Wie einem
Erlöser riefen mir, fo oft ich in ihren dem Tode geweihten Kreis zurückkehrte,
die Schmerzgefvlterten mit kläglicher Stimme von allen Seiten her zu: "Ach,
Fourier, um Gottes willen, helfen Sie mir! Um meiner armen Kinder, um
meiner armen Eltern, um meiner armen Geschwister willen, helfen Sie mir!"
Ich eilte, das heiße Verlangen der Flehenden zu stillen. Indem ich, da die
Schrecknisse dieses Ortes auch bei Tage durch eine schauerliche Dunkelheit er¬
höht wurden, mit Händen und Füßen umherfühlend, unter den Kranken herum¬
kriechen mußte, preßte ich manchen Kranken, auf deren erfrorene Füße ich trotz
aller angewandten Behutsamkeit trat, ein herzzerschneidendes Schmerzgestöhn aus.
Ich suchte den emporgestreckten Händen die rettuugverheißenden Gaben darzu¬
reichen. Aber wie hätten diese Gaben an diejenigen, sür welche sie bestimmt
waren, gelangen können, da mir die Medicinflaschen und Gläser aus deu Händen
gerissen wurden? Wie war da an einen zweckmäßigen Gebrauch und an eine
erwünschte Wirkung zu denken, wo die Patienten mit dem, was zum Einnehmen
bestimmt war, die erfrorenen Glieder bestrichen, dagegen dasjenige, was aufge¬
strichen oder eingerieben werden sollte, gierig verschluckten? Es hätten Wunder
geschehen müssen, wenn nicht die meisten dieser Leidenden ihre Augen zum letzten
Schlafe hüllen schließen sollen.

Für die, welche dem Tode unrettbar verfallen erschienen, war ein beson¬
deres Sterbezimmer vorhanden, wohin sie eben erst dann gebracht wurden, wenn
der Sieg des Todes über das Leben entschieden zu sein schien. Aber nicht alle,
welche dahin geschafft worden waren, blieben dort bis zu ihrem letzten Athem¬
zuge. Wenn die Lebensflamme nur einigermaßen wieder in ihnen aufflackerte,
versuchten sie mit Anstrengung ihrer letzten Kräfte sich diesem schauerlichen Vor¬
hofe des finsteren Schattenreichs zu entwinden, und vielen gelang dieser Ver¬
such. Im Fieberparoxysmus krochen sie aus dieser Sterbehöhle, schrieen kläg¬
lich, warum man sie schon zu den Todten zähle, da sie ja noch Leben hätten?


zuHolm hatte. Zur nächtlichen Lagerstätte (ich darf nicht sagen Ruhestätte, da
hier an eine wahre, erquickende Ruhe nicht zu denken war) hatte ich, da Läufe
an den Wänden hinausliefen, den Korb benutzt, in welchem ich am Tage die
mit Bouillon gefüllten hölzernen Gefäße abholte. Ich hatte den Korb auf
Steine gesetzt. Jeden Morgen, nachdem ich mich von dieser Lagerstätte empor-
und heruntergewühlt hatte, trug ich aus den Wohnungen der Aerzte meinen
leidenden Brüdern die Arzneimittel zu. Wie gern erwies ich den Schmerz- und
Jammerbelasteteu diesen Dienst der Menschlichkeit! Wie sehr wünschte ich bei
jeder Rückkehr in ihre grauenvolle Mitte, daß aus den Medieingläsern, mit
denen ich bepackt war, Linderung, Erquickung und Leben über die sehnsüchtig,
zum Theil mit schon halb gebrochenen Herzen und fast schon zum Todesschlafe
geschlossenen Augen auf mich wartenden ausgegossen werden möchte! Wie einem
Erlöser riefen mir, fo oft ich in ihren dem Tode geweihten Kreis zurückkehrte,
die Schmerzgefvlterten mit kläglicher Stimme von allen Seiten her zu: „Ach,
Fourier, um Gottes willen, helfen Sie mir! Um meiner armen Kinder, um
meiner armen Eltern, um meiner armen Geschwister willen, helfen Sie mir!"
Ich eilte, das heiße Verlangen der Flehenden zu stillen. Indem ich, da die
Schrecknisse dieses Ortes auch bei Tage durch eine schauerliche Dunkelheit er¬
höht wurden, mit Händen und Füßen umherfühlend, unter den Kranken herum¬
kriechen mußte, preßte ich manchen Kranken, auf deren erfrorene Füße ich trotz
aller angewandten Behutsamkeit trat, ein herzzerschneidendes Schmerzgestöhn aus.
Ich suchte den emporgestreckten Händen die rettuugverheißenden Gaben darzu¬
reichen. Aber wie hätten diese Gaben an diejenigen, sür welche sie bestimmt
waren, gelangen können, da mir die Medicinflaschen und Gläser aus deu Händen
gerissen wurden? Wie war da an einen zweckmäßigen Gebrauch und an eine
erwünschte Wirkung zu denken, wo die Patienten mit dem, was zum Einnehmen
bestimmt war, die erfrorenen Glieder bestrichen, dagegen dasjenige, was aufge¬
strichen oder eingerieben werden sollte, gierig verschluckten? Es hätten Wunder
geschehen müssen, wenn nicht die meisten dieser Leidenden ihre Augen zum letzten
Schlafe hüllen schließen sollen.

Für die, welche dem Tode unrettbar verfallen erschienen, war ein beson¬
deres Sterbezimmer vorhanden, wohin sie eben erst dann gebracht wurden, wenn
der Sieg des Todes über das Leben entschieden zu sein schien. Aber nicht alle,
welche dahin geschafft worden waren, blieben dort bis zu ihrem letzten Athem¬
zuge. Wenn die Lebensflamme nur einigermaßen wieder in ihnen aufflackerte,
versuchten sie mit Anstrengung ihrer letzten Kräfte sich diesem schauerlichen Vor¬
hofe des finsteren Schattenreichs zu entwinden, und vielen gelang dieser Ver¬
such. Im Fieberparoxysmus krochen sie aus dieser Sterbehöhle, schrieen kläg¬
lich, warum man sie schon zu den Todten zähle, da sie ja noch Leben hätten?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/407>, abgerufen am 23.07.2024.