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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Hand bekämen, zum wahren Wohle Englands, der Türkei, Griechenlands und
aller anderen Betheiligten zu handeln, statt sich gezwungen zu fühlen, ein un-
vernünftiges Programm der Vergangenheit zu verwirklichen. Das Telegramm
unseres Petersburger Korrespondenten, das wir heute veröffentlichen, giebt eine
Vorstellung von der aufgeregten See, in welche jener Geist hartnäckiger Kon¬
sequenz das Schiff Europas hinausgleiten zu lassen droht. Die Berechnungen,
die dort enthüllt werden, beschäftigen vielleicht in diesem Augenblicke Moltke und
den kaiserlichen Rath in Ischl, und sie rufen uns auf jeden Fall ominös jene
Pläne ins Gedächtniß zurück, die Stratford de Redcliffe kannte und so lange
bekämpfte."

Die hier erwähnte Korrespondenz lautet: "Man fühlt sich hier sehr ent¬
täuscht; denn es scheint auf der Hand zu liegen, daß, sobald es sich um prak¬
tisches Vorgehen handelt, es sofort ganz und gar unmöglich wird, die Farce
aufrecht zu erhalten, die man das europäische Einvernehmen nennt. Die Idee
einer Flottendemonstration ist unter dem europäischen Publikum viel verspottet
worden, da sie, wie man glaubte, keine andere Folge haben konnte, als den
Türken wieder einmal Gelegenheit zu geben, über die gemeinsame Note Europas
sich ins Fäustchen zu lachen. Wäre Rußland indeß im Stande gewesen, seinen
Plan geheim zu halten, so würden die Schachzüge, die man in Se. Petersburg
im Auge hatte, die anscheinend nichts bedeutende Flottendemonstration in einen
sehr ernsten Schlag nach der Existenz des türkischen Reiches verwandelt haben."

"Man erwartete, die Albanesen, welche naturgemäß und von ganzem Herzen
die Pforte gegen die Griechen unterstützt haben würden, würden von den Monte¬
negrinern reichlich Beschäftigung bekommen haben, und die Griechen würden in
wenigen Wochen so weit sein, um mit einer Armee von etwa 50000 Mann in
Epirus und Thessalien einzurücken. Wenn die Flottendemonstration zu gleicher
Zeit mit dem Marsche der griechische" Armee stattgefunden hätte, so würden die
Türken gezwungen gewesen sein, ihre Truppen gegen die Griechen den Weg über
das Rhodope-Gebirge nehmen zu lassen. Der Verlust der Seeverbindungen
würde an sich schon ein schwerer Schlag für die Türken gewesen sein, und der
russische Plan ging dahin, zu derselben Zeit einen Aufstand in Ostrumelien und
Macedonien hervorzurufen, der von Bulgarien offen und von Nußland insge¬
heim durch Absendung von Offizieren und Waffen unterstützt wordenj wäre. Die
Lage der Türken, die sich durch schwieriges Terrain hindurchzuarbeiten gehabt
hätten, während die Bulgaren und Ostrumelier in ihrer Flanke, die Griechen
in ihrer Front erschienen wären, würde eine verzweifelte gewesen sein, und der
vernichtete Vertrag von San Stefano hätte leicht eine Wirklichkeit werden können."

"Dieser ganze schöne Plan ist jedoch vereitelt worden. Es zeigt sich, daß
die Franzosen bei der Flottendemonstration so wenig wie möglich zu thun ge-


Hand bekämen, zum wahren Wohle Englands, der Türkei, Griechenlands und
aller anderen Betheiligten zu handeln, statt sich gezwungen zu fühlen, ein un-
vernünftiges Programm der Vergangenheit zu verwirklichen. Das Telegramm
unseres Petersburger Korrespondenten, das wir heute veröffentlichen, giebt eine
Vorstellung von der aufgeregten See, in welche jener Geist hartnäckiger Kon¬
sequenz das Schiff Europas hinausgleiten zu lassen droht. Die Berechnungen,
die dort enthüllt werden, beschäftigen vielleicht in diesem Augenblicke Moltke und
den kaiserlichen Rath in Ischl, und sie rufen uns auf jeden Fall ominös jene
Pläne ins Gedächtniß zurück, die Stratford de Redcliffe kannte und so lange
bekämpfte."

Die hier erwähnte Korrespondenz lautet: „Man fühlt sich hier sehr ent¬
täuscht; denn es scheint auf der Hand zu liegen, daß, sobald es sich um prak¬
tisches Vorgehen handelt, es sofort ganz und gar unmöglich wird, die Farce
aufrecht zu erhalten, die man das europäische Einvernehmen nennt. Die Idee
einer Flottendemonstration ist unter dem europäischen Publikum viel verspottet
worden, da sie, wie man glaubte, keine andere Folge haben konnte, als den
Türken wieder einmal Gelegenheit zu geben, über die gemeinsame Note Europas
sich ins Fäustchen zu lachen. Wäre Rußland indeß im Stande gewesen, seinen
Plan geheim zu halten, so würden die Schachzüge, die man in Se. Petersburg
im Auge hatte, die anscheinend nichts bedeutende Flottendemonstration in einen
sehr ernsten Schlag nach der Existenz des türkischen Reiches verwandelt haben."

„Man erwartete, die Albanesen, welche naturgemäß und von ganzem Herzen
die Pforte gegen die Griechen unterstützt haben würden, würden von den Monte¬
negrinern reichlich Beschäftigung bekommen haben, und die Griechen würden in
wenigen Wochen so weit sein, um mit einer Armee von etwa 50000 Mann in
Epirus und Thessalien einzurücken. Wenn die Flottendemonstration zu gleicher
Zeit mit dem Marsche der griechische» Armee stattgefunden hätte, so würden die
Türken gezwungen gewesen sein, ihre Truppen gegen die Griechen den Weg über
das Rhodope-Gebirge nehmen zu lassen. Der Verlust der Seeverbindungen
würde an sich schon ein schwerer Schlag für die Türken gewesen sein, und der
russische Plan ging dahin, zu derselben Zeit einen Aufstand in Ostrumelien und
Macedonien hervorzurufen, der von Bulgarien offen und von Nußland insge¬
heim durch Absendung von Offizieren und Waffen unterstützt wordenj wäre. Die
Lage der Türken, die sich durch schwieriges Terrain hindurchzuarbeiten gehabt
hätten, während die Bulgaren und Ostrumelier in ihrer Flanke, die Griechen
in ihrer Front erschienen wären, würde eine verzweifelte gewesen sein, und der
vernichtete Vertrag von San Stefano hätte leicht eine Wirklichkeit werden können."

„Dieser ganze schöne Plan ist jedoch vereitelt worden. Es zeigt sich, daß
die Franzosen bei der Flottendemonstration so wenig wie möglich zu thun ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/401>, abgerufen am 23.07.2024.