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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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aufträgt einen Entwurf auszuarbeiten. Raumer unterzog sich dieser ehrenvollen
Aufgabe mit größter Hingebung. Sein Entwurf, welcher sich an ein in der
Schulpraxis wohlbewährtes Schriftchen, das von Berliner Gymnasial- und
Nealschnllehrern Heransgegebene Regelbuch für die deutsche Orthographie, eng
anlehnte, wurde sodann auf der Berliner Orthographie-Konferenz im Januar
1876 voir Fachmännern gründlich beraten. Doch kam es damals in Folge
von Meinungsverschiedenheiten über das Dehnnngs-H zu keinem einheitlichen
Beschlusse, und man überzeugte sich bald, daß die von der Mehrheit der Kon¬
ferenz vorgeschlagene Behandlung des Dehnungs-H und des S-lautes auf Wider¬
stand im Volke stoßen würde. So beschloß denn das preußische Ministerium
Falk unter Zurückgreifen auf die ursprüngliche Raumersche Vorlage mit Berück¬
sichtigung der Konferenzbeschlüsse ein neues Regelbuch ausarbeite" zu lassen,
und legte diese Aufgabe in die Hände des Professor Wilmanns in Greifs¬
wald, welcher als tüchtiger Germanist und Verfasser einer deutschen Grammatik
bekannt ist und an den Arbeiten der Orthographie-Konferenz hervorragenden
Anteil genommen hatte.

Dies ist die Entstehungsgeschichte der unter dem Ministerium Puttkamer
für die Schulen verordneten Rechtschreibung. Ob man hiernach das Recht hat
von Ueberstürzung, von Mangel an Sachverständnis zu sprechen, kann sich jeder
selbst sagen.

Wenn man freilich manche Zeituygsstimmen hört, möchte man glauben, der
Orthographie-Erlaß sei ein Ausfluß brutalster Willkür. Man hat ihn einen
Faustschlag ins Gesicht der Nation, ein Attentat gegen unsere Muttersprache ge¬
nannt. Namentlich hat man sich höchst wunderliche Vorstellungen gemacht von
der Tragweite der Abweichungen der neuen Schreibweise gegenüber dem bis¬
herigen Schreibgebrauche. Ein Reichstagsredner ruft jammernd aus, sämmt¬
liche Bibeln und Gesangbücher, diese Heiligtümer für viele Familien, müßten
vernichtet werden; und noch weiter geht der Verfasser eines blumenreichen Auf¬
satzes in einem der letzten Hefte von Lindaus "Gegenwart", welcher in naiver
Sachunkenutnis geradezu Unglaubliches leistet. Der Artikel ist zu interessant,
als daß ich mir versagen könnte einiges daraus mitzuteilen. Er ist überschrieben:
Apotheose des Puttkamerschen Rechtschreibungsdecrets. Der Aufsatz
beginnt mit einer Anzahl von Citaten über das Tragische der Weltgeschichte.
"Die immense Monotonie dieser Tragik" -- so fährt der Verfasser fort -- "wird
zuweilen durchbrochen und es blickt so etwas wie die ewige Heiterkeit breitgrin-
send vom Firmament auf uns herab. Es kommt uns dann vor, als schallte
das homerische Göttergelächter vom Olymp zum Tartarus herab (ist der
Verfasser schon so weit hinabgekommen?) und als hätte Zeus die Narrenkappe
aufgesetzt. Ein solcher Moment war gekommen" --, als das orthographische


aufträgt einen Entwurf auszuarbeiten. Raumer unterzog sich dieser ehrenvollen
Aufgabe mit größter Hingebung. Sein Entwurf, welcher sich an ein in der
Schulpraxis wohlbewährtes Schriftchen, das von Berliner Gymnasial- und
Nealschnllehrern Heransgegebene Regelbuch für die deutsche Orthographie, eng
anlehnte, wurde sodann auf der Berliner Orthographie-Konferenz im Januar
1876 voir Fachmännern gründlich beraten. Doch kam es damals in Folge
von Meinungsverschiedenheiten über das Dehnnngs-H zu keinem einheitlichen
Beschlusse, und man überzeugte sich bald, daß die von der Mehrheit der Kon¬
ferenz vorgeschlagene Behandlung des Dehnungs-H und des S-lautes auf Wider¬
stand im Volke stoßen würde. So beschloß denn das preußische Ministerium
Falk unter Zurückgreifen auf die ursprüngliche Raumersche Vorlage mit Berück¬
sichtigung der Konferenzbeschlüsse ein neues Regelbuch ausarbeite» zu lassen,
und legte diese Aufgabe in die Hände des Professor Wilmanns in Greifs¬
wald, welcher als tüchtiger Germanist und Verfasser einer deutschen Grammatik
bekannt ist und an den Arbeiten der Orthographie-Konferenz hervorragenden
Anteil genommen hatte.

Dies ist die Entstehungsgeschichte der unter dem Ministerium Puttkamer
für die Schulen verordneten Rechtschreibung. Ob man hiernach das Recht hat
von Ueberstürzung, von Mangel an Sachverständnis zu sprechen, kann sich jeder
selbst sagen.

Wenn man freilich manche Zeituygsstimmen hört, möchte man glauben, der
Orthographie-Erlaß sei ein Ausfluß brutalster Willkür. Man hat ihn einen
Faustschlag ins Gesicht der Nation, ein Attentat gegen unsere Muttersprache ge¬
nannt. Namentlich hat man sich höchst wunderliche Vorstellungen gemacht von
der Tragweite der Abweichungen der neuen Schreibweise gegenüber dem bis¬
herigen Schreibgebrauche. Ein Reichstagsredner ruft jammernd aus, sämmt¬
liche Bibeln und Gesangbücher, diese Heiligtümer für viele Familien, müßten
vernichtet werden; und noch weiter geht der Verfasser eines blumenreichen Auf¬
satzes in einem der letzten Hefte von Lindaus „Gegenwart", welcher in naiver
Sachunkenutnis geradezu Unglaubliches leistet. Der Artikel ist zu interessant,
als daß ich mir versagen könnte einiges daraus mitzuteilen. Er ist überschrieben:
Apotheose des Puttkamerschen Rechtschreibungsdecrets. Der Aufsatz
beginnt mit einer Anzahl von Citaten über das Tragische der Weltgeschichte.
„Die immense Monotonie dieser Tragik" — so fährt der Verfasser fort — „wird
zuweilen durchbrochen und es blickt so etwas wie die ewige Heiterkeit breitgrin-
send vom Firmament auf uns herab. Es kommt uns dann vor, als schallte
das homerische Göttergelächter vom Olymp zum Tartarus herab (ist der
Verfasser schon so weit hinabgekommen?) und als hätte Zeus die Narrenkappe
aufgesetzt. Ein solcher Moment war gekommen" —, als das orthographische


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/371>, abgerufen am 26.06.2024.