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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Sandemans (des "politischen Offiziers" in Quella) Angabe "aus ziemlich zuver¬
lässiger Quelle" nicht ohne Weiteres von der Hand weisen, daß "Burrows
Streitmacht in Kandahar eingetroffen ist." Aber obwohl wir für jede Erleich¬
terung unseres Herzens in Betreff dieses Unglücks dankbar sind, können wir
doch mit den Thatsachen vor Augen, die bis heute vorliegen, die Rechtfertigung
der Feldherrnkunst nicht wohl hinnehmen, welche die unglückliche Brigade mit
so leichtfertiger Sorglosigkeit einem ungenügend bekannten Feinde entgegensandte.
Es ist keine Rechtfertigung, wenn man uns vorhält, es sei gegen die Ueber¬
lieferung unsrer Rasse in Indien, einem Feinde mit einigermaßen gleichen
Kräften entgegenzutreten, auch verbessert es die Position nicht, wenn man von
Hinterhalten redet und militärische Niederlagen dem Umstände zuschreibt, daß
das Departement der Kundschafter mangelhaft unterrichtet gewesen sei. Ganz
recht, wenn man in die Schlacht gehend nicht auf die Zahl der eigenen Mann¬
schaften baut, aber es ist etwas anderes, wenn man unterläßt, sich über die
Zahl derjenigen Gewißheit zu verschaffen, über welche der Feind verfügt. Lasse
man unsere braven Soldaten auch noch so wenige sein, aber stelle man sie nicht
unbekannten Streitlüsten gegenüber, wie es unzweifelhaft hier geschehen ist.
Nicht nur, daß das Heranziehen Ajub Chaus von Herat von unseren Behörden
augenscheinlich als unwichtig betrachtet wurde, man hielt auch seine Aussichten
auf Vordringen bis zum Helmcmd für äußerst zweifelhaft und seinen Uebergang
über diesen Fluß für geradezu unmöglich. In Indien herrschte, wie wir fürchten,
dieselbe unglückselige Sorglosigkeit wie im Hauptquartier der in Afghanistan
operirenden Armee, aber die Folge war, daß, als das Unglück eintrat, die Herren
in Simla (der Sommerresidenz des Vicekönigs Lord Ripon) nicht das Mindeste
von den betheiligten britischen Truppen, ihrer Anzahl, ihrer Zusammensetzung,
ihren Offizieren wußten, und daß noch im jetzigen Augenblicke die Berichte der
Generale über diese Punkte mit denen der Regierung nicht übereinstimmen."

Wir kommen zum Schluß unserer Betrachtung. Die Katastrophe von Kan¬
dahar ist ein empfindlicher Schlag für England. Sie ist dies weniger in mili¬
tärischer als in politischer Hinsicht. Englands Macht in Asien beruht nicht
so sehr auf Thatsachen als auf den Meinungen des dortigen Volkes, nicht so
sehr auf seiner wirklichen Kraft, als auf der Vorstellung von derselben, gleichsam
auf dem Credit, den sie bei der Bevölkerung genießt. Dieser Credit ist durch
das in Rede stehende Ereigniß ungleich mehr erschüttert und für ungleich län¬
gere Dauer vermindert worden als die militärische Macht Englands in Indien,
die dnrch Nachschub von Truppen und die Vertreibung Ajub Chans aus seiner
Position bei Kandahar binnen wenigen Monaten wieder ihre frühere Hohe er¬
reichen wird.

Die öffentliche Meinung in Deutschland, Oesterreich und Frankreich hat


Sandemans (des „politischen Offiziers" in Quella) Angabe „aus ziemlich zuver¬
lässiger Quelle" nicht ohne Weiteres von der Hand weisen, daß „Burrows
Streitmacht in Kandahar eingetroffen ist." Aber obwohl wir für jede Erleich¬
terung unseres Herzens in Betreff dieses Unglücks dankbar sind, können wir
doch mit den Thatsachen vor Augen, die bis heute vorliegen, die Rechtfertigung
der Feldherrnkunst nicht wohl hinnehmen, welche die unglückliche Brigade mit
so leichtfertiger Sorglosigkeit einem ungenügend bekannten Feinde entgegensandte.
Es ist keine Rechtfertigung, wenn man uns vorhält, es sei gegen die Ueber¬
lieferung unsrer Rasse in Indien, einem Feinde mit einigermaßen gleichen
Kräften entgegenzutreten, auch verbessert es die Position nicht, wenn man von
Hinterhalten redet und militärische Niederlagen dem Umstände zuschreibt, daß
das Departement der Kundschafter mangelhaft unterrichtet gewesen sei. Ganz
recht, wenn man in die Schlacht gehend nicht auf die Zahl der eigenen Mann¬
schaften baut, aber es ist etwas anderes, wenn man unterläßt, sich über die
Zahl derjenigen Gewißheit zu verschaffen, über welche der Feind verfügt. Lasse
man unsere braven Soldaten auch noch so wenige sein, aber stelle man sie nicht
unbekannten Streitlüsten gegenüber, wie es unzweifelhaft hier geschehen ist.
Nicht nur, daß das Heranziehen Ajub Chaus von Herat von unseren Behörden
augenscheinlich als unwichtig betrachtet wurde, man hielt auch seine Aussichten
auf Vordringen bis zum Helmcmd für äußerst zweifelhaft und seinen Uebergang
über diesen Fluß für geradezu unmöglich. In Indien herrschte, wie wir fürchten,
dieselbe unglückselige Sorglosigkeit wie im Hauptquartier der in Afghanistan
operirenden Armee, aber die Folge war, daß, als das Unglück eintrat, die Herren
in Simla (der Sommerresidenz des Vicekönigs Lord Ripon) nicht das Mindeste
von den betheiligten britischen Truppen, ihrer Anzahl, ihrer Zusammensetzung,
ihren Offizieren wußten, und daß noch im jetzigen Augenblicke die Berichte der
Generale über diese Punkte mit denen der Regierung nicht übereinstimmen."

Wir kommen zum Schluß unserer Betrachtung. Die Katastrophe von Kan¬
dahar ist ein empfindlicher Schlag für England. Sie ist dies weniger in mili¬
tärischer als in politischer Hinsicht. Englands Macht in Asien beruht nicht
so sehr auf Thatsachen als auf den Meinungen des dortigen Volkes, nicht so
sehr auf seiner wirklichen Kraft, als auf der Vorstellung von derselben, gleichsam
auf dem Credit, den sie bei der Bevölkerung genießt. Dieser Credit ist durch
das in Rede stehende Ereigniß ungleich mehr erschüttert und für ungleich län¬
gere Dauer vermindert worden als die militärische Macht Englands in Indien,
die dnrch Nachschub von Truppen und die Vertreibung Ajub Chans aus seiner
Position bei Kandahar binnen wenigen Monaten wieder ihre frühere Hohe er¬
reichen wird.

Die öffentliche Meinung in Deutschland, Oesterreich und Frankreich hat


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[0271] Sandemans (des „politischen Offiziers" in Quella) Angabe „aus ziemlich zuver¬ lässiger Quelle" nicht ohne Weiteres von der Hand weisen, daß „Burrows Streitmacht in Kandahar eingetroffen ist." Aber obwohl wir für jede Erleich¬ terung unseres Herzens in Betreff dieses Unglücks dankbar sind, können wir doch mit den Thatsachen vor Augen, die bis heute vorliegen, die Rechtfertigung der Feldherrnkunst nicht wohl hinnehmen, welche die unglückliche Brigade mit so leichtfertiger Sorglosigkeit einem ungenügend bekannten Feinde entgegensandte. Es ist keine Rechtfertigung, wenn man uns vorhält, es sei gegen die Ueber¬ lieferung unsrer Rasse in Indien, einem Feinde mit einigermaßen gleichen Kräften entgegenzutreten, auch verbessert es die Position nicht, wenn man von Hinterhalten redet und militärische Niederlagen dem Umstände zuschreibt, daß das Departement der Kundschafter mangelhaft unterrichtet gewesen sei. Ganz recht, wenn man in die Schlacht gehend nicht auf die Zahl der eigenen Mann¬ schaften baut, aber es ist etwas anderes, wenn man unterläßt, sich über die Zahl derjenigen Gewißheit zu verschaffen, über welche der Feind verfügt. Lasse man unsere braven Soldaten auch noch so wenige sein, aber stelle man sie nicht unbekannten Streitlüsten gegenüber, wie es unzweifelhaft hier geschehen ist. Nicht nur, daß das Heranziehen Ajub Chaus von Herat von unseren Behörden augenscheinlich als unwichtig betrachtet wurde, man hielt auch seine Aussichten auf Vordringen bis zum Helmcmd für äußerst zweifelhaft und seinen Uebergang über diesen Fluß für geradezu unmöglich. In Indien herrschte, wie wir fürchten, dieselbe unglückselige Sorglosigkeit wie im Hauptquartier der in Afghanistan operirenden Armee, aber die Folge war, daß, als das Unglück eintrat, die Herren in Simla (der Sommerresidenz des Vicekönigs Lord Ripon) nicht das Mindeste von den betheiligten britischen Truppen, ihrer Anzahl, ihrer Zusammensetzung, ihren Offizieren wußten, und daß noch im jetzigen Augenblicke die Berichte der Generale über diese Punkte mit denen der Regierung nicht übereinstimmen." Wir kommen zum Schluß unserer Betrachtung. Die Katastrophe von Kan¬ dahar ist ein empfindlicher Schlag für England. Sie ist dies weniger in mili¬ tärischer als in politischer Hinsicht. Englands Macht in Asien beruht nicht so sehr auf Thatsachen als auf den Meinungen des dortigen Volkes, nicht so sehr auf seiner wirklichen Kraft, als auf der Vorstellung von derselben, gleichsam auf dem Credit, den sie bei der Bevölkerung genießt. Dieser Credit ist durch das in Rede stehende Ereigniß ungleich mehr erschüttert und für ungleich län¬ gere Dauer vermindert worden als die militärische Macht Englands in Indien, die dnrch Nachschub von Truppen und die Vertreibung Ajub Chans aus seiner Position bei Kandahar binnen wenigen Monaten wieder ihre frühere Hohe er¬ reichen wird. Die öffentliche Meinung in Deutschland, Oesterreich und Frankreich hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/271>, abgerufen am 23.07.2024.