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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Factoren faßt, was freilich gewöhnlich nicht geschieht. Die Harmonie ist kein
elementarer Factor, die Wirkung selbst des einzelnen Aeeordes können wir nicht
als eine elementare bezeichnen; die resultirende Empfindung der Consoncmz oder
Dissonanz setzt einen Vergleichnngsaet voraus, dem ähnlich, welcher eine Ton¬
folge gefällig oder widersinnig findet. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus,
daß in der That ganz dieselben Principien für Tonfolgen wie für Zusammen¬
klange maßgebend sind. Sofern die Melodie etwas anderes ist als bloße Ver¬
änderung der Tonhöhe, sofern sie Steigung und Fall durchaus nur stufen¬
weise geschehen läßt, d. h. die Verhältnisse einer diatonischen Tonleiter innehält,
ist sie nicht mehr nur sie selbst, sondern ist bereits von dem Princip der Har¬
monie durchdrungen. Moritz Hauptmann sagt in seiner "Natur der Harmonik
und Metrik": Die melodische Folge als Zusammenklang gesetzt, ist Dissonanz
und setzt damit die Melodie bereits voraus als Folge harmonisch bezogener
Tone. Wir können daher umgekehrt auch hageln die Harmonie in ein Nach¬
einander ihrer Elemente zerlegt, ist musikalische Melodie. So führt die Har¬
monie direct über zur Musik als Kunst, aber doch nur, indem sie das rohe
Material des elementaren Factors der Melodik für die Kunst verwendbar ge¬
staltet und sozusagen behauene Steine aus der formlosen Masse bildet. Die
Harmonie selbst ist trotzdem noch immer kein Knnstprincip, vielmehr von der
Natur als Mittelglied für den Uebergang zu künstlerischer Gestaltung gegeben.

Das Wesen der Harmonik erklärt sich aus gewissen akustischen Phäno¬
menen, aus gewissen innigen Wechselbeziehungen zwischen der Natur der tönen¬
den Körper und der Construction des die Töne auffassenden menschlichen Gehör¬
organs. Bekanntlich sind diese Phänomene das der Obertöne und das der
Combinationstöne. Die Auffassung von Tönen im Sinne von Klängen, welche
sich durch die Zusammensetzung des einzelnen Klanges aus der Reihe der Ober¬
töne erklärt, ist die erste logisch-kritische Thätigkeit unseres Geistes beim Musik-
Hören oder Musikschaffen. Sie ist daher der eigentliche Anfang der Kunst.
Denn nun beginnt die Verkettung der Beziehungen -- die verschiedenen Klänge,
welche nacheinander oder gleichzeitig vertreten sind, werden wieder ebenso wie die
einzelnen Töne auf einander bezogen und treten zu Klanggruppen zusammen, die
ebenso ihre einheitliche Beziehung zu einem mittleren Klänge, der Tonika, finden,
wie die Töne desselben Klanges zum Klanghaupttone. Wir erhalten daher
über dem Begriffe der Consoncmz den weiteren der Tonalitüt. Die Tonsolge
wie der Zusammenklang kann nicht willkürlich sein, ohne zu mißfallen, die innere
Einheit in der Verschiedenheit, welche zuerst als consonanter Accord und aus¬
geprägte Tonart auftritt, macht also in der That aus den rohen Elementen
der Tonhöhenveründerung brauchbares Material für die Bildungen der Kunst.
Die Natur weist durch die harmonischen Phänomene direct auf die Wege zur


Factoren faßt, was freilich gewöhnlich nicht geschieht. Die Harmonie ist kein
elementarer Factor, die Wirkung selbst des einzelnen Aeeordes können wir nicht
als eine elementare bezeichnen; die resultirende Empfindung der Consoncmz oder
Dissonanz setzt einen Vergleichnngsaet voraus, dem ähnlich, welcher eine Ton¬
folge gefällig oder widersinnig findet. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus,
daß in der That ganz dieselben Principien für Tonfolgen wie für Zusammen¬
klange maßgebend sind. Sofern die Melodie etwas anderes ist als bloße Ver¬
änderung der Tonhöhe, sofern sie Steigung und Fall durchaus nur stufen¬
weise geschehen läßt, d. h. die Verhältnisse einer diatonischen Tonleiter innehält,
ist sie nicht mehr nur sie selbst, sondern ist bereits von dem Princip der Har¬
monie durchdrungen. Moritz Hauptmann sagt in seiner „Natur der Harmonik
und Metrik": Die melodische Folge als Zusammenklang gesetzt, ist Dissonanz
und setzt damit die Melodie bereits voraus als Folge harmonisch bezogener
Tone. Wir können daher umgekehrt auch hageln die Harmonie in ein Nach¬
einander ihrer Elemente zerlegt, ist musikalische Melodie. So führt die Har¬
monie direct über zur Musik als Kunst, aber doch nur, indem sie das rohe
Material des elementaren Factors der Melodik für die Kunst verwendbar ge¬
staltet und sozusagen behauene Steine aus der formlosen Masse bildet. Die
Harmonie selbst ist trotzdem noch immer kein Knnstprincip, vielmehr von der
Natur als Mittelglied für den Uebergang zu künstlerischer Gestaltung gegeben.

Das Wesen der Harmonik erklärt sich aus gewissen akustischen Phäno¬
menen, aus gewissen innigen Wechselbeziehungen zwischen der Natur der tönen¬
den Körper und der Construction des die Töne auffassenden menschlichen Gehör¬
organs. Bekanntlich sind diese Phänomene das der Obertöne und das der
Combinationstöne. Die Auffassung von Tönen im Sinne von Klängen, welche
sich durch die Zusammensetzung des einzelnen Klanges aus der Reihe der Ober¬
töne erklärt, ist die erste logisch-kritische Thätigkeit unseres Geistes beim Musik-
Hören oder Musikschaffen. Sie ist daher der eigentliche Anfang der Kunst.
Denn nun beginnt die Verkettung der Beziehungen — die verschiedenen Klänge,
welche nacheinander oder gleichzeitig vertreten sind, werden wieder ebenso wie die
einzelnen Töne auf einander bezogen und treten zu Klanggruppen zusammen, die
ebenso ihre einheitliche Beziehung zu einem mittleren Klänge, der Tonika, finden,
wie die Töne desselben Klanges zum Klanghaupttone. Wir erhalten daher
über dem Begriffe der Consoncmz den weiteren der Tonalitüt. Die Tonsolge
wie der Zusammenklang kann nicht willkürlich sein, ohne zu mißfallen, die innere
Einheit in der Verschiedenheit, welche zuerst als consonanter Accord und aus¬
geprägte Tonart auftritt, macht also in der That aus den rohen Elementen
der Tonhöhenveründerung brauchbares Material für die Bildungen der Kunst.
Die Natur weist durch die harmonischen Phänomene direct auf die Wege zur


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[0236] Factoren faßt, was freilich gewöhnlich nicht geschieht. Die Harmonie ist kein elementarer Factor, die Wirkung selbst des einzelnen Aeeordes können wir nicht als eine elementare bezeichnen; die resultirende Empfindung der Consoncmz oder Dissonanz setzt einen Vergleichnngsaet voraus, dem ähnlich, welcher eine Ton¬ folge gefällig oder widersinnig findet. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, daß in der That ganz dieselben Principien für Tonfolgen wie für Zusammen¬ klange maßgebend sind. Sofern die Melodie etwas anderes ist als bloße Ver¬ änderung der Tonhöhe, sofern sie Steigung und Fall durchaus nur stufen¬ weise geschehen läßt, d. h. die Verhältnisse einer diatonischen Tonleiter innehält, ist sie nicht mehr nur sie selbst, sondern ist bereits von dem Princip der Har¬ monie durchdrungen. Moritz Hauptmann sagt in seiner „Natur der Harmonik und Metrik": Die melodische Folge als Zusammenklang gesetzt, ist Dissonanz und setzt damit die Melodie bereits voraus als Folge harmonisch bezogener Tone. Wir können daher umgekehrt auch hageln die Harmonie in ein Nach¬ einander ihrer Elemente zerlegt, ist musikalische Melodie. So führt die Har¬ monie direct über zur Musik als Kunst, aber doch nur, indem sie das rohe Material des elementaren Factors der Melodik für die Kunst verwendbar ge¬ staltet und sozusagen behauene Steine aus der formlosen Masse bildet. Die Harmonie selbst ist trotzdem noch immer kein Knnstprincip, vielmehr von der Natur als Mittelglied für den Uebergang zu künstlerischer Gestaltung gegeben. Das Wesen der Harmonik erklärt sich aus gewissen akustischen Phäno¬ menen, aus gewissen innigen Wechselbeziehungen zwischen der Natur der tönen¬ den Körper und der Construction des die Töne auffassenden menschlichen Gehör¬ organs. Bekanntlich sind diese Phänomene das der Obertöne und das der Combinationstöne. Die Auffassung von Tönen im Sinne von Klängen, welche sich durch die Zusammensetzung des einzelnen Klanges aus der Reihe der Ober¬ töne erklärt, ist die erste logisch-kritische Thätigkeit unseres Geistes beim Musik- Hören oder Musikschaffen. Sie ist daher der eigentliche Anfang der Kunst. Denn nun beginnt die Verkettung der Beziehungen — die verschiedenen Klänge, welche nacheinander oder gleichzeitig vertreten sind, werden wieder ebenso wie die einzelnen Töne auf einander bezogen und treten zu Klanggruppen zusammen, die ebenso ihre einheitliche Beziehung zu einem mittleren Klänge, der Tonika, finden, wie die Töne desselben Klanges zum Klanghaupttone. Wir erhalten daher über dem Begriffe der Consoncmz den weiteren der Tonalitüt. Die Tonsolge wie der Zusammenklang kann nicht willkürlich sein, ohne zu mißfallen, die innere Einheit in der Verschiedenheit, welche zuerst als consonanter Accord und aus¬ geprägte Tonart auftritt, macht also in der That aus den rohen Elementen der Tonhöhenveründerung brauchbares Material für die Bildungen der Kunst. Die Natur weist durch die harmonischen Phänomene direct auf die Wege zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/236>, abgerufen am 25.08.2024.