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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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und Herablassen vergleichen läßt. Der langansgehaltene Ton erscheint als
Stillstand dieser Bewegung, als Ruhepunkt.

Ueberblicken wir die elementaren Factoren, so finden wir in dreifacher
Weise den Gegensatz von positiver und negativer Bewegungsart vertreten, näm¬
lich als Beschleunigung und Verlangsamung, als Schwellen und Schwinden
und als Steigen und Fallen. Es leuchtet ein, daß durch diese Wirkungen auf
unser Empfinden die Musik die Seele ganz ähnlich bewegen muß, wie Affecte
sie bewegen, daß daher der Verlauf eines Musikstückes den Eindruck eines
seelischen Geschehens machen kann, vorausgesetzt, daß ästhetische Principien in
jenen elementaren Bewegungsacten zur Geltung kommen und das Geschehene
zu einem nach natürlichen Gesetzen Verlaufenden machen. Jedenfalls geben die
elementaren Factoren die Erklärung für die Möglichkeit, die Musik in der Ver¬
bindung mit dem Worte zur Interpretation der Gefühlsvorgänge zu machen;
die Darstellungsfähigkeit der Musik liegt also direct in der Wirkung der elemen¬
taren Factoren. Die chromatischen Scalen, die rauschende" Violinfiguren mit
reichlicher Benutzung fremder Durchgangstöne, die schroffen Wechsel der Dynamik,
die oft genug harmonisch nndefinirbaren Säuseleien, welche die moderne illustrirende
Musik so reichlich verbraucht, rechnen durchaus mit jenen elementaren Wirkungen,
und es ist keine thörichte Prüderie, wenn die Formalisten jene Mittel in gewissem
Grade perhorresciren, wenigstens vor ihrem häufigen Gebrauche warnen. Die
chromatische Scala steht in der That, wo sie in schnellem Tempo zur Verwen¬
dung kommt, der stetigen Veränderung der Tonhöhe sehr nahe und kann oft
ohne merklichen Unterschied in der Wirkung dnrch dieselbe ersetzt werden; als
Beispiel sei uur der "Fliegende Holländer" genannt, wo die häufigen chroma¬
tischen Baßfiguren, welche ohne Frage den die See aufwühlenden Sturm malen
sollen, ebensogut durch einfaches Hinanfgleiten eines Fingers auf der Saite her¬
vorgebracht werden können, wie durch eine die Halbtöne trennende Applikatur.
Dergleichen ist durchaus naturalistisch. Dagegen findet der ästhetische Genuß,
den die Formalisten vom musikalischen Kunstwerk haben, erst seine Erklärung
durch die Principien der Formgebung selbst.

Was ist nun aber musikalische Form? welches sind die ästhetischen Prin¬
cipiell, von denen durchdrungen die elementaren Wirkungsmittel zur Krystalli¬
sation gebracht werden? -- Wir deuteten schon vorher darauf hin, daß die
Melodie als geordnete Reihe harmonisch bezogener Töne ein fertiges Kunstwerk
sei. Es handelt sich darum, festzustellen, was unter dieser harmonischen Be-
zogenheit zu verstehen ist.

Man ist gewohnt, die Harmonie in einer Reihe mit dem Rhythmus und der
Melodie zu nennen. Doch ist diese Zusammenstellung nicht ganz unbedenklich,
sobald man Rhythmus und Melodie in dem eben entwickelten Sinne elementarer


und Herablassen vergleichen läßt. Der langansgehaltene Ton erscheint als
Stillstand dieser Bewegung, als Ruhepunkt.

Ueberblicken wir die elementaren Factoren, so finden wir in dreifacher
Weise den Gegensatz von positiver und negativer Bewegungsart vertreten, näm¬
lich als Beschleunigung und Verlangsamung, als Schwellen und Schwinden
und als Steigen und Fallen. Es leuchtet ein, daß durch diese Wirkungen auf
unser Empfinden die Musik die Seele ganz ähnlich bewegen muß, wie Affecte
sie bewegen, daß daher der Verlauf eines Musikstückes den Eindruck eines
seelischen Geschehens machen kann, vorausgesetzt, daß ästhetische Principien in
jenen elementaren Bewegungsacten zur Geltung kommen und das Geschehene
zu einem nach natürlichen Gesetzen Verlaufenden machen. Jedenfalls geben die
elementaren Factoren die Erklärung für die Möglichkeit, die Musik in der Ver¬
bindung mit dem Worte zur Interpretation der Gefühlsvorgänge zu machen;
die Darstellungsfähigkeit der Musik liegt also direct in der Wirkung der elemen¬
taren Factoren. Die chromatischen Scalen, die rauschende» Violinfiguren mit
reichlicher Benutzung fremder Durchgangstöne, die schroffen Wechsel der Dynamik,
die oft genug harmonisch nndefinirbaren Säuseleien, welche die moderne illustrirende
Musik so reichlich verbraucht, rechnen durchaus mit jenen elementaren Wirkungen,
und es ist keine thörichte Prüderie, wenn die Formalisten jene Mittel in gewissem
Grade perhorresciren, wenigstens vor ihrem häufigen Gebrauche warnen. Die
chromatische Scala steht in der That, wo sie in schnellem Tempo zur Verwen¬
dung kommt, der stetigen Veränderung der Tonhöhe sehr nahe und kann oft
ohne merklichen Unterschied in der Wirkung dnrch dieselbe ersetzt werden; als
Beispiel sei uur der „Fliegende Holländer" genannt, wo die häufigen chroma¬
tischen Baßfiguren, welche ohne Frage den die See aufwühlenden Sturm malen
sollen, ebensogut durch einfaches Hinanfgleiten eines Fingers auf der Saite her¬
vorgebracht werden können, wie durch eine die Halbtöne trennende Applikatur.
Dergleichen ist durchaus naturalistisch. Dagegen findet der ästhetische Genuß,
den die Formalisten vom musikalischen Kunstwerk haben, erst seine Erklärung
durch die Principien der Formgebung selbst.

Was ist nun aber musikalische Form? welches sind die ästhetischen Prin¬
cipiell, von denen durchdrungen die elementaren Wirkungsmittel zur Krystalli¬
sation gebracht werden? — Wir deuteten schon vorher darauf hin, daß die
Melodie als geordnete Reihe harmonisch bezogener Töne ein fertiges Kunstwerk
sei. Es handelt sich darum, festzustellen, was unter dieser harmonischen Be-
zogenheit zu verstehen ist.

Man ist gewohnt, die Harmonie in einer Reihe mit dem Rhythmus und der
Melodie zu nennen. Doch ist diese Zusammenstellung nicht ganz unbedenklich,
sobald man Rhythmus und Melodie in dem eben entwickelten Sinne elementarer


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[0235] und Herablassen vergleichen läßt. Der langansgehaltene Ton erscheint als Stillstand dieser Bewegung, als Ruhepunkt. Ueberblicken wir die elementaren Factoren, so finden wir in dreifacher Weise den Gegensatz von positiver und negativer Bewegungsart vertreten, näm¬ lich als Beschleunigung und Verlangsamung, als Schwellen und Schwinden und als Steigen und Fallen. Es leuchtet ein, daß durch diese Wirkungen auf unser Empfinden die Musik die Seele ganz ähnlich bewegen muß, wie Affecte sie bewegen, daß daher der Verlauf eines Musikstückes den Eindruck eines seelischen Geschehens machen kann, vorausgesetzt, daß ästhetische Principien in jenen elementaren Bewegungsacten zur Geltung kommen und das Geschehene zu einem nach natürlichen Gesetzen Verlaufenden machen. Jedenfalls geben die elementaren Factoren die Erklärung für die Möglichkeit, die Musik in der Ver¬ bindung mit dem Worte zur Interpretation der Gefühlsvorgänge zu machen; die Darstellungsfähigkeit der Musik liegt also direct in der Wirkung der elemen¬ taren Factoren. Die chromatischen Scalen, die rauschende» Violinfiguren mit reichlicher Benutzung fremder Durchgangstöne, die schroffen Wechsel der Dynamik, die oft genug harmonisch nndefinirbaren Säuseleien, welche die moderne illustrirende Musik so reichlich verbraucht, rechnen durchaus mit jenen elementaren Wirkungen, und es ist keine thörichte Prüderie, wenn die Formalisten jene Mittel in gewissem Grade perhorresciren, wenigstens vor ihrem häufigen Gebrauche warnen. Die chromatische Scala steht in der That, wo sie in schnellem Tempo zur Verwen¬ dung kommt, der stetigen Veränderung der Tonhöhe sehr nahe und kann oft ohne merklichen Unterschied in der Wirkung dnrch dieselbe ersetzt werden; als Beispiel sei uur der „Fliegende Holländer" genannt, wo die häufigen chroma¬ tischen Baßfiguren, welche ohne Frage den die See aufwühlenden Sturm malen sollen, ebensogut durch einfaches Hinanfgleiten eines Fingers auf der Saite her¬ vorgebracht werden können, wie durch eine die Halbtöne trennende Applikatur. Dergleichen ist durchaus naturalistisch. Dagegen findet der ästhetische Genuß, den die Formalisten vom musikalischen Kunstwerk haben, erst seine Erklärung durch die Principien der Formgebung selbst. Was ist nun aber musikalische Form? welches sind die ästhetischen Prin¬ cipiell, von denen durchdrungen die elementaren Wirkungsmittel zur Krystalli¬ sation gebracht werden? — Wir deuteten schon vorher darauf hin, daß die Melodie als geordnete Reihe harmonisch bezogener Töne ein fertiges Kunstwerk sei. Es handelt sich darum, festzustellen, was unter dieser harmonischen Be- zogenheit zu verstehen ist. Man ist gewohnt, die Harmonie in einer Reihe mit dem Rhythmus und der Melodie zu nennen. Doch ist diese Zusammenstellung nicht ganz unbedenklich, sobald man Rhythmus und Melodie in dem eben entwickelten Sinne elementarer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/235>, abgerufen am 25.08.2024.