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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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heit, die große Welt aus unmittelbarer Nahe zu studiren und als Schriftsteller,
als welcher er mit seinen 1752 veröffentlichten ersten poetischen Versuchen nur
wenig Anklang gefunden, dasjenige Gebiet zu betreten, auf dem sein Name Be¬
rühmtheit erringen sollte.

Die mailändische Gesellschaft von damals bot ein betrübendes Bild geistiger
und moralischer Verkommenheit. Abgesehen von ganz vereinzelten Erscheinungen,
zu denen u. a. die geistvolle Herzogin Serbelloni Ottoboni zählte, setzte sie sich
zusammen ans Gecken und Ignoranten, deren innere Hohlheit nur durch ihre
lächerliche Anmaßung übertroffen wurde. Die lombardische Hauptstadt, noch
unter den Nachwirkungen der unseligen spanischen Fremdherrschaft leidend, glich,
wie Giusti sich ausdrückt, einem verschuldeten Edelmann, der eine Menge von
Orden auf zerrissenem Rocke trägt, und das Elend der niederen Volksschichten,
das neben der Hoffart und Prunksucht der herrschenden Classe doppelt grell
hervortrat, konnte nicht verfehlen, in dem empfänglichen Gemüthe des jungen
Mannes, der die Noth des Lebens aus eigener bitterer Erfahrung kannte, ein
lautes Echo wachzurufen; der tägliche Verkehr mit den Angehörigen einer privi-
legirten Kaste, die sich im Vollgefühle ihrer Rechte aller Pflichten enthoben
glaubte, drückte dem Sohne des Volkes, der uuter den mißlichsten Verhältnissen
nie seine Ideale vergessen, die Feder in die Hand, um die Verkehrtheit und
Nichtigkeit der ihn umgebenden Welt zu geißeln.

Ein Satiriker, der mehr als jeder andere Poet in seiner Zeit wurzeln muß,
um nachhaltige Erfolge zu erringen, wird in früheren Literaturepochen selten
Vorbilder finden, an die er sich unmittelbar anlehnen könnte; nicht nur seiue
Stoffwelt, auch die Behandlung derselben muß durchaus neu und originell sein,
um zu wirken. Weder die Satire eines Horaz, eines Persius oder Juvenal,
noch die seiner italienischen Vorgänger wie Ariosts konnte Parmi Belehrung
darüber bieten, wie er seinen Stoff künstlerisch zu gestalten habe; ihm, den tiefe
sittliche Entrüstung über die bestehenden Zustände zur Satire hindrängte, konnte
es nicht genügen, dieselben dem Gelächter der Nation preiszugeben; sein Zweck
ging vielmehr dahin, dnrch Belehrung zu bessern, zu einer geistigen und mora¬
lischen Regeneration nach seinen Kräften mitzuwirken. So schrieb er ein an¬
scheinend didaktisches Gedicht, in welchem beißende Ironie den Grundton bildet.
Indem er es in diesem Gedichte, "Der Tag", unternimmt, einen jungen Aristo¬
kraten zu unterweisen, wie er es anzufangen habe, um die vierundzwanzig Stun¬
den des Tages standesgemäß auszufüllen, weiß er den Abscheu, den er selbst
gegen dieses Treiben hegt, bei seinen Lesern mit erstaunlichem Geschick hervor¬
zurufen. Durch die dramatische Behandlung des Stoffes wird die Gefahr er¬
müdender Eintönigkeit, die eine fortgesetzte ironische Darstellung nahelegt, aufs


heit, die große Welt aus unmittelbarer Nahe zu studiren und als Schriftsteller,
als welcher er mit seinen 1752 veröffentlichten ersten poetischen Versuchen nur
wenig Anklang gefunden, dasjenige Gebiet zu betreten, auf dem sein Name Be¬
rühmtheit erringen sollte.

Die mailändische Gesellschaft von damals bot ein betrübendes Bild geistiger
und moralischer Verkommenheit. Abgesehen von ganz vereinzelten Erscheinungen,
zu denen u. a. die geistvolle Herzogin Serbelloni Ottoboni zählte, setzte sie sich
zusammen ans Gecken und Ignoranten, deren innere Hohlheit nur durch ihre
lächerliche Anmaßung übertroffen wurde. Die lombardische Hauptstadt, noch
unter den Nachwirkungen der unseligen spanischen Fremdherrschaft leidend, glich,
wie Giusti sich ausdrückt, einem verschuldeten Edelmann, der eine Menge von
Orden auf zerrissenem Rocke trägt, und das Elend der niederen Volksschichten,
das neben der Hoffart und Prunksucht der herrschenden Classe doppelt grell
hervortrat, konnte nicht verfehlen, in dem empfänglichen Gemüthe des jungen
Mannes, der die Noth des Lebens aus eigener bitterer Erfahrung kannte, ein
lautes Echo wachzurufen; der tägliche Verkehr mit den Angehörigen einer privi-
legirten Kaste, die sich im Vollgefühle ihrer Rechte aller Pflichten enthoben
glaubte, drückte dem Sohne des Volkes, der uuter den mißlichsten Verhältnissen
nie seine Ideale vergessen, die Feder in die Hand, um die Verkehrtheit und
Nichtigkeit der ihn umgebenden Welt zu geißeln.

Ein Satiriker, der mehr als jeder andere Poet in seiner Zeit wurzeln muß,
um nachhaltige Erfolge zu erringen, wird in früheren Literaturepochen selten
Vorbilder finden, an die er sich unmittelbar anlehnen könnte; nicht nur seiue
Stoffwelt, auch die Behandlung derselben muß durchaus neu und originell sein,
um zu wirken. Weder die Satire eines Horaz, eines Persius oder Juvenal,
noch die seiner italienischen Vorgänger wie Ariosts konnte Parmi Belehrung
darüber bieten, wie er seinen Stoff künstlerisch zu gestalten habe; ihm, den tiefe
sittliche Entrüstung über die bestehenden Zustände zur Satire hindrängte, konnte
es nicht genügen, dieselben dem Gelächter der Nation preiszugeben; sein Zweck
ging vielmehr dahin, dnrch Belehrung zu bessern, zu einer geistigen und mora¬
lischen Regeneration nach seinen Kräften mitzuwirken. So schrieb er ein an¬
scheinend didaktisches Gedicht, in welchem beißende Ironie den Grundton bildet.
Indem er es in diesem Gedichte, „Der Tag", unternimmt, einen jungen Aristo¬
kraten zu unterweisen, wie er es anzufangen habe, um die vierundzwanzig Stun¬
den des Tages standesgemäß auszufüllen, weiß er den Abscheu, den er selbst
gegen dieses Treiben hegt, bei seinen Lesern mit erstaunlichem Geschick hervor¬
zurufen. Durch die dramatische Behandlung des Stoffes wird die Gefahr er¬
müdender Eintönigkeit, die eine fortgesetzte ironische Darstellung nahelegt, aufs


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/222>, abgerufen am 23.07.2024.