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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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stalteten Wirklichkeit zu geben, es kann uns für einen Augenblick das wirkliche
Leben zeigen, wie dieses sich gestalten müßte, wenn die dieser besonderen Kunst-
schöpfung zu Grunde liegende, uns überall klar entgegenleuchtende, alles har¬
monisch zusammenfügende und aufbauende Gesetzmäßigkeit das dem Werde" der
ganzen Natur zu Grunde liegende Gesetz wäre. Dieser eigenartige Genuß ist
ästhetisch sicherlich ein berechtigter, so lange die ästhetischen Grundbedingungen
des lebenden Bildes gewahrt bleiben. Daß dies freilich nicht immer geschieht,
selbst in Künstlerkreisen nicht immer, hat uns eine glänzende Aufführung leben¬
der Bilder gezeigt, deren Auswahl wie absichtlich erscheinen könnte, um die hier
besprochene Frage durch Beispiele zu illustriren und in ihrer ganzen Entwick¬
lung zu verfolgen. Wir wollen jedoch diese Beispiele nicht nach dem Gange
der wirklichen Aufführung, sondern dem hier verfolgten Gedanken entsprechend
ordnen. Dann werden sie die erst wirkliche Frage als eine gleichsam nach allen
Richtungen der Prüfung unterworfene zeigen.

Das erste Bild, "Trauung in einer russischen Dorfkirche", war von dem
Künstler nach den von ihm selbst gewonnenen Anschauungen zum Zweck der
Aufführung besonders gestellt, nicht nach einem Gemälde, sondern nach einer
Skizze, welche nur zur Erleichterung der Aufstellung entworfen war. Wir haben
also nicht eine nach künstlerischen Grundsätzen durchgearbeitete Composition,
sondern einen aus dem wirklichen Leben herausgegriffenen und für den Augen¬
blick festgehaltenen Zustand. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die
farbenprächtige Erscheinung der Klarheit und Durchsichtigkeit ermangelte, welche
zu erlangen gerade die Aufgabe der künstlerischen Durcharbeitung ist und welche
die Auffassung von Seiten des Beschauers erleichtert. Die in dem Kunstwerk
sich fühlbar machende Gesetzmäßigkeit, die ihm eigene innere Nothwendigkeit und
Folgerichtigkeit ist gleichsam der Wegweiser, der seine Uebersichtlichkeit ermöglicht
und fördert. Fehlt dieses Moment, so hat das mitten in der Entwicklung des
natürlichen Lebens stehende, sich momentan dem Beobachter ergebende Bild immer
den außerordentlichen Vorzug, daß das vor unseren Augen vor sich gehende
Werden uns bereits mit allen Elementen der Composition vertraut gemacht hat,
so daß diese rasch ergriffen und auch ohne daß diese Absicht vorgelegen hätte,
ästhetisch verarbeitet werden kann. Fehlt aber außer der ästhetischen Vorarbeit
von Seiten des Künstlers auch diese Vorbereitung, so hinterläßt ein solches
plötzlich erscheinendes und rasch verschwindendes Bild wohl den Eindruck einer
glänzenden Erscheinung; allein ehe die ästhetische Verarbeitung der Sinnesein-
drücke hat stattfinden, ehe das Ganze als solches ins Bewußtsein treten und jedes
Einzelne seinen Platz im Verhältniß zum Ganzen hat einnehmen können, ist
Alles wieder verschwunden, und Arbeit und Sorgfalt bei der Herstellung des
lebenden Bildes stehen in gar keinem Verhältniß zu dem erlangten Gewinn.


stalteten Wirklichkeit zu geben, es kann uns für einen Augenblick das wirkliche
Leben zeigen, wie dieses sich gestalten müßte, wenn die dieser besonderen Kunst-
schöpfung zu Grunde liegende, uns überall klar entgegenleuchtende, alles har¬
monisch zusammenfügende und aufbauende Gesetzmäßigkeit das dem Werde» der
ganzen Natur zu Grunde liegende Gesetz wäre. Dieser eigenartige Genuß ist
ästhetisch sicherlich ein berechtigter, so lange die ästhetischen Grundbedingungen
des lebenden Bildes gewahrt bleiben. Daß dies freilich nicht immer geschieht,
selbst in Künstlerkreisen nicht immer, hat uns eine glänzende Aufführung leben¬
der Bilder gezeigt, deren Auswahl wie absichtlich erscheinen könnte, um die hier
besprochene Frage durch Beispiele zu illustriren und in ihrer ganzen Entwick¬
lung zu verfolgen. Wir wollen jedoch diese Beispiele nicht nach dem Gange
der wirklichen Aufführung, sondern dem hier verfolgten Gedanken entsprechend
ordnen. Dann werden sie die erst wirkliche Frage als eine gleichsam nach allen
Richtungen der Prüfung unterworfene zeigen.

Das erste Bild, „Trauung in einer russischen Dorfkirche", war von dem
Künstler nach den von ihm selbst gewonnenen Anschauungen zum Zweck der
Aufführung besonders gestellt, nicht nach einem Gemälde, sondern nach einer
Skizze, welche nur zur Erleichterung der Aufstellung entworfen war. Wir haben
also nicht eine nach künstlerischen Grundsätzen durchgearbeitete Composition,
sondern einen aus dem wirklichen Leben herausgegriffenen und für den Augen¬
blick festgehaltenen Zustand. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die
farbenprächtige Erscheinung der Klarheit und Durchsichtigkeit ermangelte, welche
zu erlangen gerade die Aufgabe der künstlerischen Durcharbeitung ist und welche
die Auffassung von Seiten des Beschauers erleichtert. Die in dem Kunstwerk
sich fühlbar machende Gesetzmäßigkeit, die ihm eigene innere Nothwendigkeit und
Folgerichtigkeit ist gleichsam der Wegweiser, der seine Uebersichtlichkeit ermöglicht
und fördert. Fehlt dieses Moment, so hat das mitten in der Entwicklung des
natürlichen Lebens stehende, sich momentan dem Beobachter ergebende Bild immer
den außerordentlichen Vorzug, daß das vor unseren Augen vor sich gehende
Werden uns bereits mit allen Elementen der Composition vertraut gemacht hat,
so daß diese rasch ergriffen und auch ohne daß diese Absicht vorgelegen hätte,
ästhetisch verarbeitet werden kann. Fehlt aber außer der ästhetischen Vorarbeit
von Seiten des Künstlers auch diese Vorbereitung, so hinterläßt ein solches
plötzlich erscheinendes und rasch verschwindendes Bild wohl den Eindruck einer
glänzenden Erscheinung; allein ehe die ästhetische Verarbeitung der Sinnesein-
drücke hat stattfinden, ehe das Ganze als solches ins Bewußtsein treten und jedes
Einzelne seinen Platz im Verhältniß zum Ganzen hat einnehmen können, ist
Alles wieder verschwunden, und Arbeit und Sorgfalt bei der Herstellung des
lebenden Bildes stehen in gar keinem Verhältniß zu dem erlangten Gewinn.


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[0193] stalteten Wirklichkeit zu geben, es kann uns für einen Augenblick das wirkliche Leben zeigen, wie dieses sich gestalten müßte, wenn die dieser besonderen Kunst- schöpfung zu Grunde liegende, uns überall klar entgegenleuchtende, alles har¬ monisch zusammenfügende und aufbauende Gesetzmäßigkeit das dem Werde» der ganzen Natur zu Grunde liegende Gesetz wäre. Dieser eigenartige Genuß ist ästhetisch sicherlich ein berechtigter, so lange die ästhetischen Grundbedingungen des lebenden Bildes gewahrt bleiben. Daß dies freilich nicht immer geschieht, selbst in Künstlerkreisen nicht immer, hat uns eine glänzende Aufführung leben¬ der Bilder gezeigt, deren Auswahl wie absichtlich erscheinen könnte, um die hier besprochene Frage durch Beispiele zu illustriren und in ihrer ganzen Entwick¬ lung zu verfolgen. Wir wollen jedoch diese Beispiele nicht nach dem Gange der wirklichen Aufführung, sondern dem hier verfolgten Gedanken entsprechend ordnen. Dann werden sie die erst wirkliche Frage als eine gleichsam nach allen Richtungen der Prüfung unterworfene zeigen. Das erste Bild, „Trauung in einer russischen Dorfkirche", war von dem Künstler nach den von ihm selbst gewonnenen Anschauungen zum Zweck der Aufführung besonders gestellt, nicht nach einem Gemälde, sondern nach einer Skizze, welche nur zur Erleichterung der Aufstellung entworfen war. Wir haben also nicht eine nach künstlerischen Grundsätzen durchgearbeitete Composition, sondern einen aus dem wirklichen Leben herausgegriffenen und für den Augen¬ blick festgehaltenen Zustand. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die farbenprächtige Erscheinung der Klarheit und Durchsichtigkeit ermangelte, welche zu erlangen gerade die Aufgabe der künstlerischen Durcharbeitung ist und welche die Auffassung von Seiten des Beschauers erleichtert. Die in dem Kunstwerk sich fühlbar machende Gesetzmäßigkeit, die ihm eigene innere Nothwendigkeit und Folgerichtigkeit ist gleichsam der Wegweiser, der seine Uebersichtlichkeit ermöglicht und fördert. Fehlt dieses Moment, so hat das mitten in der Entwicklung des natürlichen Lebens stehende, sich momentan dem Beobachter ergebende Bild immer den außerordentlichen Vorzug, daß das vor unseren Augen vor sich gehende Werden uns bereits mit allen Elementen der Composition vertraut gemacht hat, so daß diese rasch ergriffen und auch ohne daß diese Absicht vorgelegen hätte, ästhetisch verarbeitet werden kann. Fehlt aber außer der ästhetischen Vorarbeit von Seiten des Künstlers auch diese Vorbereitung, so hinterläßt ein solches plötzlich erscheinendes und rasch verschwindendes Bild wohl den Eindruck einer glänzenden Erscheinung; allein ehe die ästhetische Verarbeitung der Sinnesein- drücke hat stattfinden, ehe das Ganze als solches ins Bewußtsein treten und jedes Einzelne seinen Platz im Verhältniß zum Ganzen hat einnehmen können, ist Alles wieder verschwunden, und Arbeit und Sorgfalt bei der Herstellung des lebenden Bildes stehen in gar keinem Verhältniß zu dem erlangten Gewinn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/193>, abgerufen am 23.07.2024.