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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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kennendes und liebevolles Betrachten seiner Vorzeit". Mitzuhelfen, eine deutsche
Zukunft zu schaffen, das war und ist noch die höhere Aufgabe derjenigen Wissen¬
schaft, welche sich das Studium unserer Volksgeschichte, "wie sie in Literatur
und Sprache sich am klarsten spiegelt", zum Ziele gesetzt hat. Und so darf man
von dieser Wissenschaft -- der deutschen Philologie im engeren Sinne -- mit
Recht sagen, "daß sie nicht bloß eine Wissenschaft, sondern zugleich eine Arbei¬
terin für das Heil der Nation sei, wie freilich jede Wissenschaft im höheren
Sinne; aber die deutsche Philologie ist dies näher und unmittelbarer als jede
andere."

Mit den vorstehenden Bemerkungen ist zugleich ausgesprochen, daß die
wissenschaftliche Behandlung der deutschen Sprache und eine erweiterte und ver¬
tiefte Kenntniß unserer Geistesgeschichte überhaupt wie der gesammten Bildung,
so auch der höheren Jugenderziehung zu Gute kommen muß, soll sich diese nicht,
wie in der Vergangenheit so oft, auch in Zukunft von ihrem natürlichen Boden
entfernen und die heranwachsenden Geschlechter in Entfremdung oder Gering¬
schätzung deutscher Vildungsstoffe heranziehen.

Auch die glänzende Schöpfung des Humanismus, das Gymnasium, wird
dann erst seine höhere Aufgabe in der veränderten Gegenwart erfüllen, wenn
in den bestimmenden Kreisen eine Ueberzeugung tieferen Eingang gefunden
haben wird, die schon 1814 im Kopfe und Herzen eines Königsberger Gymna¬
siallehrers, Karl Besseldt, fest und klar stand: daß alle Völker, alte und neue,
zu unserer Bildung beitragen sollen, wir alles aber mit deutschem Geiste wieder¬
erzeugen und umgestalten müssen. Der Glaube freilich an den Werth der so¬
genannten klassischen Studien, als des alleinseligmachenden Weges zu echter
Menschenbildung, scheint selbst in denjenigen Kreisen bereits bedenklich zu wanken,
die einer grammatischen Dressur des Knabeugeistes mittelst des Lateins mit
Eifer das Wort reden. Spricht doch die Aeußerung eines Gelehrten: die so
gewonnene formale Zucht des jugendlichen Geistes sei für die Gegenwart mehr
werth als alle Schätze der griechischen Literatur, mit wahrhaft erschreckender
Offenheit aus, wie in einseitigen Verstandesmenschen der Begriff jener Bildung,
die danach einzig durch den Verstandes- und gedächtnißmäßigen Betrieb lateini¬
scher Gramatik erzielt werden soll, bereits zusammengeschrumpft ist. Ohne Zweifel
ist eine solche Art formaler Bildung doch nur ein Stück derjenigen formalen
Bildung, wie sie ursprünglich von den geistvollen Aposteln der humanistischen
Studien und ihren idealeren Vertretern auch heute noch gemeint ist. Kein
Wunder, wenn sich, zumal bei dem Vorherrschen der einseitig grammatischen
Richtung in unsere Gymnasien, die Meinung bildet, als sei wirklich mit der
erfolgreichen Erlernung lateinischer und griechischer Grammatik die Aufgabe der
gewiß nothwendigen formalen Bildung erfüllt. Und doch enthält dies moderne


Grenzboten III. 1380. 23

kennendes und liebevolles Betrachten seiner Vorzeit". Mitzuhelfen, eine deutsche
Zukunft zu schaffen, das war und ist noch die höhere Aufgabe derjenigen Wissen¬
schaft, welche sich das Studium unserer Volksgeschichte, „wie sie in Literatur
und Sprache sich am klarsten spiegelt", zum Ziele gesetzt hat. Und so darf man
von dieser Wissenschaft — der deutschen Philologie im engeren Sinne — mit
Recht sagen, „daß sie nicht bloß eine Wissenschaft, sondern zugleich eine Arbei¬
terin für das Heil der Nation sei, wie freilich jede Wissenschaft im höheren
Sinne; aber die deutsche Philologie ist dies näher und unmittelbarer als jede
andere."

Mit den vorstehenden Bemerkungen ist zugleich ausgesprochen, daß die
wissenschaftliche Behandlung der deutschen Sprache und eine erweiterte und ver¬
tiefte Kenntniß unserer Geistesgeschichte überhaupt wie der gesammten Bildung,
so auch der höheren Jugenderziehung zu Gute kommen muß, soll sich diese nicht,
wie in der Vergangenheit so oft, auch in Zukunft von ihrem natürlichen Boden
entfernen und die heranwachsenden Geschlechter in Entfremdung oder Gering¬
schätzung deutscher Vildungsstoffe heranziehen.

Auch die glänzende Schöpfung des Humanismus, das Gymnasium, wird
dann erst seine höhere Aufgabe in der veränderten Gegenwart erfüllen, wenn
in den bestimmenden Kreisen eine Ueberzeugung tieferen Eingang gefunden
haben wird, die schon 1814 im Kopfe und Herzen eines Königsberger Gymna¬
siallehrers, Karl Besseldt, fest und klar stand: daß alle Völker, alte und neue,
zu unserer Bildung beitragen sollen, wir alles aber mit deutschem Geiste wieder¬
erzeugen und umgestalten müssen. Der Glaube freilich an den Werth der so¬
genannten klassischen Studien, als des alleinseligmachenden Weges zu echter
Menschenbildung, scheint selbst in denjenigen Kreisen bereits bedenklich zu wanken,
die einer grammatischen Dressur des Knabeugeistes mittelst des Lateins mit
Eifer das Wort reden. Spricht doch die Aeußerung eines Gelehrten: die so
gewonnene formale Zucht des jugendlichen Geistes sei für die Gegenwart mehr
werth als alle Schätze der griechischen Literatur, mit wahrhaft erschreckender
Offenheit aus, wie in einseitigen Verstandesmenschen der Begriff jener Bildung,
die danach einzig durch den Verstandes- und gedächtnißmäßigen Betrieb lateini¬
scher Gramatik erzielt werden soll, bereits zusammengeschrumpft ist. Ohne Zweifel
ist eine solche Art formaler Bildung doch nur ein Stück derjenigen formalen
Bildung, wie sie ursprünglich von den geistvollen Aposteln der humanistischen
Studien und ihren idealeren Vertretern auch heute noch gemeint ist. Kein
Wunder, wenn sich, zumal bei dem Vorherrschen der einseitig grammatischen
Richtung in unsere Gymnasien, die Meinung bildet, als sei wirklich mit der
erfolgreichen Erlernung lateinischer und griechischer Grammatik die Aufgabe der
gewiß nothwendigen formalen Bildung erfüllt. Und doch enthält dies moderne


Grenzboten III. 1380. 23
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[0178] kennendes und liebevolles Betrachten seiner Vorzeit". Mitzuhelfen, eine deutsche Zukunft zu schaffen, das war und ist noch die höhere Aufgabe derjenigen Wissen¬ schaft, welche sich das Studium unserer Volksgeschichte, „wie sie in Literatur und Sprache sich am klarsten spiegelt", zum Ziele gesetzt hat. Und so darf man von dieser Wissenschaft — der deutschen Philologie im engeren Sinne — mit Recht sagen, „daß sie nicht bloß eine Wissenschaft, sondern zugleich eine Arbei¬ terin für das Heil der Nation sei, wie freilich jede Wissenschaft im höheren Sinne; aber die deutsche Philologie ist dies näher und unmittelbarer als jede andere." Mit den vorstehenden Bemerkungen ist zugleich ausgesprochen, daß die wissenschaftliche Behandlung der deutschen Sprache und eine erweiterte und ver¬ tiefte Kenntniß unserer Geistesgeschichte überhaupt wie der gesammten Bildung, so auch der höheren Jugenderziehung zu Gute kommen muß, soll sich diese nicht, wie in der Vergangenheit so oft, auch in Zukunft von ihrem natürlichen Boden entfernen und die heranwachsenden Geschlechter in Entfremdung oder Gering¬ schätzung deutscher Vildungsstoffe heranziehen. Auch die glänzende Schöpfung des Humanismus, das Gymnasium, wird dann erst seine höhere Aufgabe in der veränderten Gegenwart erfüllen, wenn in den bestimmenden Kreisen eine Ueberzeugung tieferen Eingang gefunden haben wird, die schon 1814 im Kopfe und Herzen eines Königsberger Gymna¬ siallehrers, Karl Besseldt, fest und klar stand: daß alle Völker, alte und neue, zu unserer Bildung beitragen sollen, wir alles aber mit deutschem Geiste wieder¬ erzeugen und umgestalten müssen. Der Glaube freilich an den Werth der so¬ genannten klassischen Studien, als des alleinseligmachenden Weges zu echter Menschenbildung, scheint selbst in denjenigen Kreisen bereits bedenklich zu wanken, die einer grammatischen Dressur des Knabeugeistes mittelst des Lateins mit Eifer das Wort reden. Spricht doch die Aeußerung eines Gelehrten: die so gewonnene formale Zucht des jugendlichen Geistes sei für die Gegenwart mehr werth als alle Schätze der griechischen Literatur, mit wahrhaft erschreckender Offenheit aus, wie in einseitigen Verstandesmenschen der Begriff jener Bildung, die danach einzig durch den Verstandes- und gedächtnißmäßigen Betrieb lateini¬ scher Gramatik erzielt werden soll, bereits zusammengeschrumpft ist. Ohne Zweifel ist eine solche Art formaler Bildung doch nur ein Stück derjenigen formalen Bildung, wie sie ursprünglich von den geistvollen Aposteln der humanistischen Studien und ihren idealeren Vertretern auch heute noch gemeint ist. Kein Wunder, wenn sich, zumal bei dem Vorherrschen der einseitig grammatischen Richtung in unsere Gymnasien, die Meinung bildet, als sei wirklich mit der erfolgreichen Erlernung lateinischer und griechischer Grammatik die Aufgabe der gewiß nothwendigen formalen Bildung erfüllt. Und doch enthält dies moderne Grenzboten III. 1380. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/178>, abgerufen am 23.07.2024.