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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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C. F. Meyer hat bis jetzt, wenn wir von seinen Balladen absehen, die
übrigens den Eindruck seiner poetischen Eigenart verstärken helfen, nur historische
Romane und Erzählungen publicirt. Es liegen uns in diesem Augenblicke aus
der Reihe derselben der größere Roman "Georg Jenatsch, eine Bündnerge¬
schichte aus dem 17. Jahrhundert", "Das Amulet", eine Novelle und "Der
Heilige", eine Novelle*) vor, die für die Bestrebungen und das Gelingen
des Autors charakteristisch genug sind, um ihn darnach zu beurtheilen.

Von vornherein muß hervorgehoben werden, daß C. F. Meyer keiner der
modernen Abarten und Unarten des historischen Romans zuneigt, durch welche
diese von Scott und in Deutschland von Willibald Alexis und Sealsfield-Postel
geadelte Form neuerdings ziemlich in Verruf gekommen ist. Er unterwirft
sich, wie ein tapfrer Poet foll, dem Gesetz, wonach die poetische Erfindung und
Gestaltung auch im historischen Roman und der historischen Novelle Hauptsache
bleiben muß und die Geschichte nur charakteristische Züge, einen lebens- und
farbenvollen Hintergrund geben darf. Er versucht weder durch Hereinziehung
ewiger Capitel unverarbeiteter Geschichtsphilosophie, noch durch archäologische
Treue das Fehlen wirklichen Lebens und wirklicher Menschengestalten zu ver¬
hüllen. Er hat vielmehr eine lebendige Vorstellungskraft, die ihn in ferne
Zeiten und Zustände zurückführt und dieselben wieder vor ihm aufleben läßt, er
hat eine herzliche Freude an poetischen Situationen, die sich nur aus gewissen
historischen Verhältnissen ergeben können, und er schenkt sich nicht die schwierigste
Aufgabe, nicht seine eigne Erfindung und das aus den historischen Studien Entlehnte
-- sagen wir besser das aus den historischen Studien Nachklingende, den Poeten
Umschwebende -- zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Daß zu diesem
Ziele verschiedene Wege führen, braucht kaum gesagt zu werdeu. Derjenige, den
der Verfasser von "Georg Jenatsch" und "Der Heilige" betritt, ist nicht ganz
unbedenklich. Er legt einestheils seine Erzählungen so an, daß es gewisser¬
maßen in seiner Willkür liegt, wichtige Entwicklungen flüchtig und rasch zu er¬
ledigen und bei minder wichtigen behaglich zu verweilen. Er erzählt mit Vor¬
liebe durch den Mund eines Berichterstatters, der in den Begebenheiten mitten
inne gestanden hat und seine Erinnerungen wiedergiebt. Dies ist in den Novellen
"Das Amulet" und "Der Heilige" der Fall, und es läßt sich freilich schwer darüber
rechten, daß der fingirte Erzähler, in dem die Ereignisse uoch uachzitteru, uicht
gleichmäßig den Dingen, die er erzählt, zu Recht verhilft. Im "Jenatsch" führt
der Dichter seine Erfindung unmittelbar vor und erzählt selbst; da werden Lücken
und Sprünge, Gewaltsamkeiten des Vortrags gelegentlich sehr empfindlich.
Seinen Totaleindruck aber behauptet unser Novellist durch die Kraft, die Gluth



*) Sämmtlich wohlmisgestattet im Vortag von H. Heisset in Leipzig erschienen.

C. F. Meyer hat bis jetzt, wenn wir von seinen Balladen absehen, die
übrigens den Eindruck seiner poetischen Eigenart verstärken helfen, nur historische
Romane und Erzählungen publicirt. Es liegen uns in diesem Augenblicke aus
der Reihe derselben der größere Roman „Georg Jenatsch, eine Bündnerge¬
schichte aus dem 17. Jahrhundert", „Das Amulet", eine Novelle und „Der
Heilige", eine Novelle*) vor, die für die Bestrebungen und das Gelingen
des Autors charakteristisch genug sind, um ihn darnach zu beurtheilen.

Von vornherein muß hervorgehoben werden, daß C. F. Meyer keiner der
modernen Abarten und Unarten des historischen Romans zuneigt, durch welche
diese von Scott und in Deutschland von Willibald Alexis und Sealsfield-Postel
geadelte Form neuerdings ziemlich in Verruf gekommen ist. Er unterwirft
sich, wie ein tapfrer Poet foll, dem Gesetz, wonach die poetische Erfindung und
Gestaltung auch im historischen Roman und der historischen Novelle Hauptsache
bleiben muß und die Geschichte nur charakteristische Züge, einen lebens- und
farbenvollen Hintergrund geben darf. Er versucht weder durch Hereinziehung
ewiger Capitel unverarbeiteter Geschichtsphilosophie, noch durch archäologische
Treue das Fehlen wirklichen Lebens und wirklicher Menschengestalten zu ver¬
hüllen. Er hat vielmehr eine lebendige Vorstellungskraft, die ihn in ferne
Zeiten und Zustände zurückführt und dieselben wieder vor ihm aufleben läßt, er
hat eine herzliche Freude an poetischen Situationen, die sich nur aus gewissen
historischen Verhältnissen ergeben können, und er schenkt sich nicht die schwierigste
Aufgabe, nicht seine eigne Erfindung und das aus den historischen Studien Entlehnte
— sagen wir besser das aus den historischen Studien Nachklingende, den Poeten
Umschwebende — zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Daß zu diesem
Ziele verschiedene Wege führen, braucht kaum gesagt zu werdeu. Derjenige, den
der Verfasser von „Georg Jenatsch" und „Der Heilige" betritt, ist nicht ganz
unbedenklich. Er legt einestheils seine Erzählungen so an, daß es gewisser¬
maßen in seiner Willkür liegt, wichtige Entwicklungen flüchtig und rasch zu er¬
ledigen und bei minder wichtigen behaglich zu verweilen. Er erzählt mit Vor¬
liebe durch den Mund eines Berichterstatters, der in den Begebenheiten mitten
inne gestanden hat und seine Erinnerungen wiedergiebt. Dies ist in den Novellen
„Das Amulet" und „Der Heilige" der Fall, und es läßt sich freilich schwer darüber
rechten, daß der fingirte Erzähler, in dem die Ereignisse uoch uachzitteru, uicht
gleichmäßig den Dingen, die er erzählt, zu Recht verhilft. Im „Jenatsch" führt
der Dichter seine Erfindung unmittelbar vor und erzählt selbst; da werden Lücken
und Sprünge, Gewaltsamkeiten des Vortrags gelegentlich sehr empfindlich.
Seinen Totaleindruck aber behauptet unser Novellist durch die Kraft, die Gluth



*) Sämmtlich wohlmisgestattet im Vortag von H. Heisset in Leipzig erschienen.
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[0151] C. F. Meyer hat bis jetzt, wenn wir von seinen Balladen absehen, die übrigens den Eindruck seiner poetischen Eigenart verstärken helfen, nur historische Romane und Erzählungen publicirt. Es liegen uns in diesem Augenblicke aus der Reihe derselben der größere Roman „Georg Jenatsch, eine Bündnerge¬ schichte aus dem 17. Jahrhundert", „Das Amulet", eine Novelle und „Der Heilige", eine Novelle*) vor, die für die Bestrebungen und das Gelingen des Autors charakteristisch genug sind, um ihn darnach zu beurtheilen. Von vornherein muß hervorgehoben werden, daß C. F. Meyer keiner der modernen Abarten und Unarten des historischen Romans zuneigt, durch welche diese von Scott und in Deutschland von Willibald Alexis und Sealsfield-Postel geadelte Form neuerdings ziemlich in Verruf gekommen ist. Er unterwirft sich, wie ein tapfrer Poet foll, dem Gesetz, wonach die poetische Erfindung und Gestaltung auch im historischen Roman und der historischen Novelle Hauptsache bleiben muß und die Geschichte nur charakteristische Züge, einen lebens- und farbenvollen Hintergrund geben darf. Er versucht weder durch Hereinziehung ewiger Capitel unverarbeiteter Geschichtsphilosophie, noch durch archäologische Treue das Fehlen wirklichen Lebens und wirklicher Menschengestalten zu ver¬ hüllen. Er hat vielmehr eine lebendige Vorstellungskraft, die ihn in ferne Zeiten und Zustände zurückführt und dieselben wieder vor ihm aufleben läßt, er hat eine herzliche Freude an poetischen Situationen, die sich nur aus gewissen historischen Verhältnissen ergeben können, und er schenkt sich nicht die schwierigste Aufgabe, nicht seine eigne Erfindung und das aus den historischen Studien Entlehnte — sagen wir besser das aus den historischen Studien Nachklingende, den Poeten Umschwebende — zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Daß zu diesem Ziele verschiedene Wege führen, braucht kaum gesagt zu werdeu. Derjenige, den der Verfasser von „Georg Jenatsch" und „Der Heilige" betritt, ist nicht ganz unbedenklich. Er legt einestheils seine Erzählungen so an, daß es gewisser¬ maßen in seiner Willkür liegt, wichtige Entwicklungen flüchtig und rasch zu er¬ ledigen und bei minder wichtigen behaglich zu verweilen. Er erzählt mit Vor¬ liebe durch den Mund eines Berichterstatters, der in den Begebenheiten mitten inne gestanden hat und seine Erinnerungen wiedergiebt. Dies ist in den Novellen „Das Amulet" und „Der Heilige" der Fall, und es läßt sich freilich schwer darüber rechten, daß der fingirte Erzähler, in dem die Ereignisse uoch uachzitteru, uicht gleichmäßig den Dingen, die er erzählt, zu Recht verhilft. Im „Jenatsch" führt der Dichter seine Erfindung unmittelbar vor und erzählt selbst; da werden Lücken und Sprünge, Gewaltsamkeiten des Vortrags gelegentlich sehr empfindlich. Seinen Totaleindruck aber behauptet unser Novellist durch die Kraft, die Gluth *) Sämmtlich wohlmisgestattet im Vortag von H. Heisset in Leipzig erschienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/151>, abgerufen am 23.07.2024.