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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Londoner Hofe, dem "Marquis" Tseng zur Nachluhtnng übermittelt worden sein
soll/") Die Verhandlungen über diesen neuen Vertrag hätten schon vor vier
Monaten beginnen können, haben sich aber, wie es scheint, bis jetzt verzögert,
so daß man annehmen darf, es sei keinem der beiden Theile ernstlich um eine
Verständigung zu thun und man "volle beiderseits nnr Zeit gewinnen. Rußland
brauchte einen Aufschub des Krieges, den es offenbar einem Nachgeben vor den
chinesischen Ansprüchen vorzieht und schon seines Prestiges in Centralasien wegen
vorziehen muß; es hatte nicht genug Truppen an der chinesischen Grenze, es
mußte die dort stehenden Abtheilungen, wenn es Erfolg haben wollte, zu Lande
und zu Wasser wesentlich verstärken. China dagegen wollte sich durch Verzöge¬
rung der Entscheidung den Vortheil verschaffen, den Umstand, daß seine stark
bevölkerten Nordprovinzen unmittelbar an Russisch-Asien grenzen, militärisch
ausbeuten zu können. Rußland kann mit seinen Truppentransportschiffen auf
dem Seewege (von Odessa nach Sachalin) sein an China stoßendes Gebiet in
etwa sechs Wochen erreichen, aber zu Lande braucht es zur Beförderung einer
Armee von genügender Stärke bis an den Ussuri-Fluß mindestens fünf MonaK,
sehr wahrscheinlich aber sieben. Je länger sich also die Verhandlung über Ab¬
änderung des von Dschang Hau abgeschlossenen Traktats hinzog, desto besser
konnte man sich in Rußland auf deu Kampf vorbereiten. Von Odessa konnte
man mit der sogenannten "Freiwilligen Kreuzerflotte", die währeud der letzte"
Zeit des russisch-türkischen Krieges aus Privatbeiträgm geschaffen wurde, schon
im Mai ein paar tausend Mann nach Sachalin und Wladiwostok befördern. Die
für diesen Zweck viel wichtigere Kronstädter Kriegsflotte aber konnte, soweit ihre
Schiffe überhaupt brauchbar waren, deshalb nicht auslaufen, weil sie im Eise
stak. Ohne Zweifel hat man russischerseits aus diesen Gründen vorzüglich die
Verschleppung der neuen Unterhandlungen von Seiten der Chinesen nicht nur
geduldet, sondern gern gesehen. An Erzielung eines Uebereinkommens hat man
schwerlich geglaubt. Rußland kann den Chinesen in der That in dieser Ange¬
legenheit nicht wohl zu Willen sein. Sein ganzes Ansehen und sein gestimmter
Einfluß im östlichen Centralasien stehen auf dem Spiele. Wem: sich, wie es
in Petersburg hinsichtlich der Nachrichten' aus den Bazaren von Kabul heißt,
"chinesische Irreguläre" oder "chinesische Räuber" in dem streitigen Gebiete fest¬
gesetzt haben, so ist sehr wahrscheinlich, daß diese Irregulären oder Räuber zur
Regierung Chinas in einem Verhältnisse stehen, wie Garibaldi bei seinem Zuge
nach Sicilien und Neapel zu Cavours Regierung oder wie die bei Tust ver¬
sammelten Albanesen zur Pforte, und reguläre Truppen werden ihnen sehr bald



*) Der letztere kam auf seiner Reise von England nach Se. Petersburg bloß bis Berlin,
wo er neue Instructionen erhielt und in Folge dessen nach Paris ging. Jetzt ist er wieder
auf dem Wege nach Petersburg.

Londoner Hofe, dem „Marquis" Tseng zur Nachluhtnng übermittelt worden sein
soll/") Die Verhandlungen über diesen neuen Vertrag hätten schon vor vier
Monaten beginnen können, haben sich aber, wie es scheint, bis jetzt verzögert,
so daß man annehmen darf, es sei keinem der beiden Theile ernstlich um eine
Verständigung zu thun und man »volle beiderseits nnr Zeit gewinnen. Rußland
brauchte einen Aufschub des Krieges, den es offenbar einem Nachgeben vor den
chinesischen Ansprüchen vorzieht und schon seines Prestiges in Centralasien wegen
vorziehen muß; es hatte nicht genug Truppen an der chinesischen Grenze, es
mußte die dort stehenden Abtheilungen, wenn es Erfolg haben wollte, zu Lande
und zu Wasser wesentlich verstärken. China dagegen wollte sich durch Verzöge¬
rung der Entscheidung den Vortheil verschaffen, den Umstand, daß seine stark
bevölkerten Nordprovinzen unmittelbar an Russisch-Asien grenzen, militärisch
ausbeuten zu können. Rußland kann mit seinen Truppentransportschiffen auf
dem Seewege (von Odessa nach Sachalin) sein an China stoßendes Gebiet in
etwa sechs Wochen erreichen, aber zu Lande braucht es zur Beförderung einer
Armee von genügender Stärke bis an den Ussuri-Fluß mindestens fünf MonaK,
sehr wahrscheinlich aber sieben. Je länger sich also die Verhandlung über Ab¬
änderung des von Dschang Hau abgeschlossenen Traktats hinzog, desto besser
konnte man sich in Rußland auf deu Kampf vorbereiten. Von Odessa konnte
man mit der sogenannten „Freiwilligen Kreuzerflotte", die währeud der letzte»
Zeit des russisch-türkischen Krieges aus Privatbeiträgm geschaffen wurde, schon
im Mai ein paar tausend Mann nach Sachalin und Wladiwostok befördern. Die
für diesen Zweck viel wichtigere Kronstädter Kriegsflotte aber konnte, soweit ihre
Schiffe überhaupt brauchbar waren, deshalb nicht auslaufen, weil sie im Eise
stak. Ohne Zweifel hat man russischerseits aus diesen Gründen vorzüglich die
Verschleppung der neuen Unterhandlungen von Seiten der Chinesen nicht nur
geduldet, sondern gern gesehen. An Erzielung eines Uebereinkommens hat man
schwerlich geglaubt. Rußland kann den Chinesen in der That in dieser Ange¬
legenheit nicht wohl zu Willen sein. Sein ganzes Ansehen und sein gestimmter
Einfluß im östlichen Centralasien stehen auf dem Spiele. Wem: sich, wie es
in Petersburg hinsichtlich der Nachrichten' aus den Bazaren von Kabul heißt,
„chinesische Irreguläre" oder „chinesische Räuber" in dem streitigen Gebiete fest¬
gesetzt haben, so ist sehr wahrscheinlich, daß diese Irregulären oder Räuber zur
Regierung Chinas in einem Verhältnisse stehen, wie Garibaldi bei seinem Zuge
nach Sicilien und Neapel zu Cavours Regierung oder wie die bei Tust ver¬
sammelten Albanesen zur Pforte, und reguläre Truppen werden ihnen sehr bald



*) Der letztere kam auf seiner Reise von England nach Se. Petersburg bloß bis Berlin,
wo er neue Instructionen erhielt und in Folge dessen nach Paris ging. Jetzt ist er wieder
auf dem Wege nach Petersburg.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/141>, abgerufen am 23.07.2024.