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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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so stünden sie an einem Punkte, der circa zehn deutsche Meilen von der Grenze
Chinas im russischen Reiche gelegen ist. Wie dem auch sei, die Aussicht auf
einen Zusammenstoß des ungeheuren Mongolenreiches in Ostasien mit dem nicht
kleineren halbasiatischen Slavenreiche im Norden ist, seit wir das letzte Mal
über den Gegenstand schrieben, wie es scheint, näher gerückt, und so wird es
unsere nächste Aufgabe sein, einen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung
des Streites zwischen den Höfen von Se. Petersburg und Peking zu werfen.

Der Streit entstand dadurch, daß Rußland das Gebiet von Ili, welches
es als Unterpfand besetzt hatte, nicht wieder herausgeben wollte, als China es
zurückverlangte. Als letzteres seine Besitzungen im Lande der Dsungaren und
Kaschgaren wieder erobert hatte und sich stark genug fühlte, schickte es den
Mandarin Dschang Hau als Gesandten an den Kaiser Alexander, um die Rück¬
erstattung von Ili zu fordern. Dieser unglückliche Mann scheint seine Aufgabe
vollständig unrichtig aufgefaßt oder sich russischen Schmeicheleien oder Drohungen
mehr zugänglich gezeigt zu haben, als er durfte. Er unterzeichnete ein Abkom¬
men, welches den größten Theil des genannten Gebiets seinem ursprünglichen
Besitzer zurückgab, diese Wiederabtretung aber an Bedingungen knüpfte, welche
für China höchst ungünstig waren. Dieses sollte dafür, daß es nicht einmal
sein volles Eigenthum zurückerhielt, fünf Millionen Rubel an Rußland zahlen,
es sollte ferner strategische Stellungen, die es zur Sicherung seiner Grenze nöthig
hatte, den Russen einräumen, die Errichtung russischer Consulate und Waaren¬
niederlagen innerhalb seiner Grenze gestatten, russische Kaufleute sollten in der
Mongolei und den drei Provinzen Tienschan, Ramin und Plin ans- und ein¬
gehen, ohne Zölle und Steuern zu entrichten, und eine offene und ausschließlich
für ihre Ein- und Ausfuhr bestimmte Handelsstraße von Kalgun nach Hang-
dschang erhalten. Kurz die schlauen Diplomaten an der Newa hatten auf Ili
verzichtet, aber gegen ein Entgelt, welches etwa dreimal so viel werth war als
die Einkünfte aus dieser fernen Grenzprovinz, und welches dem chinesischen
Handel große Nachtheile brachte.

Diese höchst unvorteilhaften Bedingungen wurden bei Dschang Hans Rück¬
kehr nach Peking mit Entrüstung aufgenommen und sofort verworfen, und der
kurzsichtige Mandarin ins Gefängniß gesetzt, um demnächst mit Enthauptung be¬
straft zu werden. Eine merkwürdige Denkschrift, welche die chinesische Regierung
von einem ihrer Staatsgelehrten verfassen und publiciren ließ, und welche seitdem
in einer Uebersetzung im Nortll vo'na Hör^ick erschienen ist, spricht sehr deutlich
die Empfindungen aus, welche Hof und Volk von Peking beim Bekanntwerden
des Vertrags erfüllten.

"Die russischen Forderungen," sagt dieser Aufsatz, "zeigen den höchsten Grad
von Gierigkeit und Rücksichtslosigkeit, und Dschang Hau erklärte sich in seiner


so stünden sie an einem Punkte, der circa zehn deutsche Meilen von der Grenze
Chinas im russischen Reiche gelegen ist. Wie dem auch sei, die Aussicht auf
einen Zusammenstoß des ungeheuren Mongolenreiches in Ostasien mit dem nicht
kleineren halbasiatischen Slavenreiche im Norden ist, seit wir das letzte Mal
über den Gegenstand schrieben, wie es scheint, näher gerückt, und so wird es
unsere nächste Aufgabe sein, einen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung
des Streites zwischen den Höfen von Se. Petersburg und Peking zu werfen.

Der Streit entstand dadurch, daß Rußland das Gebiet von Ili, welches
es als Unterpfand besetzt hatte, nicht wieder herausgeben wollte, als China es
zurückverlangte. Als letzteres seine Besitzungen im Lande der Dsungaren und
Kaschgaren wieder erobert hatte und sich stark genug fühlte, schickte es den
Mandarin Dschang Hau als Gesandten an den Kaiser Alexander, um die Rück¬
erstattung von Ili zu fordern. Dieser unglückliche Mann scheint seine Aufgabe
vollständig unrichtig aufgefaßt oder sich russischen Schmeicheleien oder Drohungen
mehr zugänglich gezeigt zu haben, als er durfte. Er unterzeichnete ein Abkom¬
men, welches den größten Theil des genannten Gebiets seinem ursprünglichen
Besitzer zurückgab, diese Wiederabtretung aber an Bedingungen knüpfte, welche
für China höchst ungünstig waren. Dieses sollte dafür, daß es nicht einmal
sein volles Eigenthum zurückerhielt, fünf Millionen Rubel an Rußland zahlen,
es sollte ferner strategische Stellungen, die es zur Sicherung seiner Grenze nöthig
hatte, den Russen einräumen, die Errichtung russischer Consulate und Waaren¬
niederlagen innerhalb seiner Grenze gestatten, russische Kaufleute sollten in der
Mongolei und den drei Provinzen Tienschan, Ramin und Plin ans- und ein¬
gehen, ohne Zölle und Steuern zu entrichten, und eine offene und ausschließlich
für ihre Ein- und Ausfuhr bestimmte Handelsstraße von Kalgun nach Hang-
dschang erhalten. Kurz die schlauen Diplomaten an der Newa hatten auf Ili
verzichtet, aber gegen ein Entgelt, welches etwa dreimal so viel werth war als
die Einkünfte aus dieser fernen Grenzprovinz, und welches dem chinesischen
Handel große Nachtheile brachte.

Diese höchst unvorteilhaften Bedingungen wurden bei Dschang Hans Rück¬
kehr nach Peking mit Entrüstung aufgenommen und sofort verworfen, und der
kurzsichtige Mandarin ins Gefängniß gesetzt, um demnächst mit Enthauptung be¬
straft zu werden. Eine merkwürdige Denkschrift, welche die chinesische Regierung
von einem ihrer Staatsgelehrten verfassen und publiciren ließ, und welche seitdem
in einer Uebersetzung im Nortll vo'na Hör^ick erschienen ist, spricht sehr deutlich
die Empfindungen aus, welche Hof und Volk von Peking beim Bekanntwerden
des Vertrags erfüllten.

„Die russischen Forderungen," sagt dieser Aufsatz, „zeigen den höchsten Grad
von Gierigkeit und Rücksichtslosigkeit, und Dschang Hau erklärte sich in seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/138>, abgerufen am 23.07.2024.