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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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dung zu geben. Schon nach zwei Jahren, 1870, konnte er als fertiger Maler
die Pilotyschule verlassen, und zum Ausweis dafür schuf er ein Bild, welches
seinen Namen mit einem Schlage populär, ja berühmt machte.

Wenn man die Gründe untersucht, welche den ungewöhnlichen Erfolg der
"Ereilten Flüchtlinge" herbeigeführt haben, so ist sicherlich in erster Linie her¬
vorzuheben, daß das Bild mit größter Klarheit und Einfachheit eine Novelle
erzählt, deren einzelne Capitel, deren verschiedene Phasen und Katastrophen
Jedermann auf den ersten Blick aus den Köpfen der handelnden Figuren her¬
ausliest. Nicht bloß daß die äußere Charakteristik derselben eine vollkommen
verständliche ist; die Angesichter spiegeln die Empfindungen, welche die Haupt¬
personen bewegen, so vollständig wieder, daß dem Beschauer nicht das mindeste
unklar bleibt. Der stumme, vorwurfsvolle Blick der Mutter, ihr gramerfülltes
Gesicht, welches sie ihrer Tochter zuwendet, die Reue und die Scham der letz¬
teren, der finstere Trotz des jungen Mannes, der zugleich das Unbehagliche der
Situation peinlich empfindet, der respectvolle Ernst des alten Dieners, der
sich ehrerbietig an der Thür zurückhält, gleichwohl aber mit seiner Herrin
sühlt, die lebhafte Theilnahme der jungen Wirthin, die am Tische ihre Kinder
speist, der drollige Gesichtsausdruck des Postillons, welcher das flüchtige Paar
gefahren hat und nun mit einem Schlage die Situation überblickt, endlich die
Neugier der Handwerksburschen, welche der Zufall in das Wirthshaus ge¬
führt -- das alles ist mit einer meisterhaften Klarheit und Anschaulichkeit ge¬
schildert, die nichts zu wünschen übrig läßt. Das Colorit bleibt hinter der
Wahrheit der novellistischen Erzählung nicht zurück, so daß sich Form und
Inhalt in seltener Congruenz deckt. Nicht zu vergessen ist endlich das hohe
Schönheitsgefühl, welches der Maler namentlich in den weiblichen Gestalten
offenbart hat, und der glückliche Gegensatz, der sich in der jungen, verzogenen,
von romantischen Ideen erfüllten Stadtdame und den gefunden, jeder Senti¬
mentalität fremden Bäuerinnen, die eine so romantische Schrulle gar nicht be¬
greifen können, ausspricht. Zuletzt sei noch der meisterhaften Composition ge¬
dacht, die trotz ihrer novellistischen Grundlage doch dadurch einen dramatischen
Charakter gewinnt, daß auch die entferntesten Nebenfiguren ihren lebendigen
Antheil an der Haupthandlung nehmen. Das Bild wurde für die Wiener
Belvederegalerie angekauft.

Die Stoffe für seine übrigen Bilder wählte Kurzbauer fast ausschließlich
aus dem Leben der schwäbischen und schwarzwälder Bauern, für welche er
ebenso classische Typen aufgestellt hat, wie Defregger für die Tiroler. Was
Kurzbauer in der Feinheit und Reichhaltigkeit des physiognomischen Ausdrucks
zu leisten im Stande ist, beweist am besten seine "Weinprobe". In einem Keller
sitzen drei schwäbische Bauern bei einander. Der eine hat eben mit einem Heber


dung zu geben. Schon nach zwei Jahren, 1870, konnte er als fertiger Maler
die Pilotyschule verlassen, und zum Ausweis dafür schuf er ein Bild, welches
seinen Namen mit einem Schlage populär, ja berühmt machte.

Wenn man die Gründe untersucht, welche den ungewöhnlichen Erfolg der
„Ereilten Flüchtlinge" herbeigeführt haben, so ist sicherlich in erster Linie her¬
vorzuheben, daß das Bild mit größter Klarheit und Einfachheit eine Novelle
erzählt, deren einzelne Capitel, deren verschiedene Phasen und Katastrophen
Jedermann auf den ersten Blick aus den Köpfen der handelnden Figuren her¬
ausliest. Nicht bloß daß die äußere Charakteristik derselben eine vollkommen
verständliche ist; die Angesichter spiegeln die Empfindungen, welche die Haupt¬
personen bewegen, so vollständig wieder, daß dem Beschauer nicht das mindeste
unklar bleibt. Der stumme, vorwurfsvolle Blick der Mutter, ihr gramerfülltes
Gesicht, welches sie ihrer Tochter zuwendet, die Reue und die Scham der letz¬
teren, der finstere Trotz des jungen Mannes, der zugleich das Unbehagliche der
Situation peinlich empfindet, der respectvolle Ernst des alten Dieners, der
sich ehrerbietig an der Thür zurückhält, gleichwohl aber mit seiner Herrin
sühlt, die lebhafte Theilnahme der jungen Wirthin, die am Tische ihre Kinder
speist, der drollige Gesichtsausdruck des Postillons, welcher das flüchtige Paar
gefahren hat und nun mit einem Schlage die Situation überblickt, endlich die
Neugier der Handwerksburschen, welche der Zufall in das Wirthshaus ge¬
führt — das alles ist mit einer meisterhaften Klarheit und Anschaulichkeit ge¬
schildert, die nichts zu wünschen übrig läßt. Das Colorit bleibt hinter der
Wahrheit der novellistischen Erzählung nicht zurück, so daß sich Form und
Inhalt in seltener Congruenz deckt. Nicht zu vergessen ist endlich das hohe
Schönheitsgefühl, welches der Maler namentlich in den weiblichen Gestalten
offenbart hat, und der glückliche Gegensatz, der sich in der jungen, verzogenen,
von romantischen Ideen erfüllten Stadtdame und den gefunden, jeder Senti¬
mentalität fremden Bäuerinnen, die eine so romantische Schrulle gar nicht be¬
greifen können, ausspricht. Zuletzt sei noch der meisterhaften Composition ge¬
dacht, die trotz ihrer novellistischen Grundlage doch dadurch einen dramatischen
Charakter gewinnt, daß auch die entferntesten Nebenfiguren ihren lebendigen
Antheil an der Haupthandlung nehmen. Das Bild wurde für die Wiener
Belvederegalerie angekauft.

Die Stoffe für seine übrigen Bilder wählte Kurzbauer fast ausschließlich
aus dem Leben der schwäbischen und schwarzwälder Bauern, für welche er
ebenso classische Typen aufgestellt hat, wie Defregger für die Tiroler. Was
Kurzbauer in der Feinheit und Reichhaltigkeit des physiognomischen Ausdrucks
zu leisten im Stande ist, beweist am besten seine „Weinprobe". In einem Keller
sitzen drei schwäbische Bauern bei einander. Der eine hat eben mit einem Heber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/133>, abgerufen am 23.07.2024.