Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.gelegene Meliteviertel. Alles dunkel -- nur aus einer F^"'? (Fenster) leuchtet "Aus nichts wird nichts; nichts, was wirklich ist, kann vernichtet werden. Lassen wir den in das System wenig passenden Satz von der Abweichung gelegene Meliteviertel. Alles dunkel — nur aus einer F^«'? (Fenster) leuchtet „Aus nichts wird nichts; nichts, was wirklich ist, kann vernichtet werden. Lassen wir den in das System wenig passenden Satz von der Abweichung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147201"/> <p xml:id="ID_306" prev="#ID_305"> gelegene Meliteviertel. Alles dunkel — nur aus einer F^«'? (Fenster) leuchtet<lb/> Helle herab. Der 72 Jahre alte Epikur liegt dort auf dem Krankenlager, ge¬<lb/> pflegt von seinem treuen Sclaven Mys und von Leontion, die seit sieben Jahren<lb/> Wittwe ist. Kein Seufzer kommt über seine Lippen. Freudig zurückschauend<lb/> auf ein tugendhaft und weise verbrachtes Leben spottet er aller Qual, mit der<lb/> ein heftiges Steinleiden ihn heimsucht, und hält — ein Lieblingsausdruck von<lb/> ihm — Seelenwindstille (/«>i,^t^ H i/^/H «6ro5). „Wie oft," flüstert er der<lb/> ausdauernden Leontion zu, „wie oft sprach ich euch vom Stier des Phalaris, jenem<lb/> ehernen Folterbau, in welchem Phalaris, der scheußliche Tyrann von Agrigent,<lb/> vor 300 Jahren die Opfer seiner Grausamkeit verbrennen ließ, wie oft ermahnte<lb/> ich euch, wenn man euch auch in den Stier des Phalaris setzte, auszurufen:<lb/> ,Wie süß ist's! Wie wenig rührt mich das!^ Glaube mir, Leontion, die Folter¬<lb/> qualen, welche die armen Stierinsafsen erlitten, waren gewiß nicht heftiger, als<lb/> die Schmerzen, welche ich jetzt dulde; aber ich rufe: ,Wie süß ist's! Wie wenig<lb/> rührt mich das"' Trat wieder Ebbe in den Schmerzen ein, so mußte ihm Leon¬<lb/> tion aus seinen Büchern vorlesen über die Urdinge, über die Seele, über den<lb/> Tod. Werfen wir auch in diese Blätter seiner Philosophie noch einen Blick.</p><lb/> <p xml:id="ID_307"> „Aus nichts wird nichts; nichts, was wirklich ist, kann vernichtet werden.<lb/> Wirkliches Sein kommt nur den Atomen und dem leeren Raume zu. Die Atome<lb/> sind kleiner als jede meßbare Größe; sie sind ewig; ihre Zahl ist unbegrenzt,<lb/> nicht so ihre Formeu. Weil im leeren Raum kein Widerstand ist, so müssen<lb/> alle Körper gleich schnell fallen, aber jedes Atom kann willkürlich eine Kleinigkeit<lb/> von der senkrechten Richtung abweichen. Alles Werden und Vergehen besteht<lb/> nur in Verbindung und Trennung der Atome. Alles in der Natur geschieht<lb/> durch Nothwendigkeit. Die Seele besteht aus den feinsten, dem Feuer und<lb/> Lufthauche verwandte» Atomen; wie fein diese sind, geht daraus hervor, daß der<lb/> entseelte Körper gerade so viel wiegt, als der beseelte. Mit dem Körper löst<lb/> sich auch die Seele. Die Entstehung der Bilder im Verstände kommt von einer<lb/> bestündigen Ausstrahlung feiner Theilchen von der Oberfläche der Körper. Auf<lb/> diese Art gehen wirkliche Abbilder stofflich in uns ein. Auch das Hören ge¬<lb/> schieht durch eine Strömung, die von den tönenden Körpern herrührt. Sobald<lb/> der Schall entsteht, wird der Laut aus gewissen Schwellungen gebildet, welche<lb/> eine luftühnliche Strömung erzeugen."</p><lb/> <p xml:id="ID_308" next="#ID_309"> Lassen wir den in das System wenig passenden Satz von der Abweichung<lb/> der Atome bei Seite, so wird der philosophisch gebildete Leser in den vorge¬<lb/> tragenen Sätzen die Hauptprincipien der modernen Naturwissenschaft, des moder¬<lb/> nen physikalischen Materialismus erkennen. Sie enthalten vor Allem die beiden<lb/> großen Lehrsätze der neueren Physik: den Satz von der Unzerstörbarkeit des<lb/> Stoffes und den von der Erhaltung der Kraft, ferner die Ateleologie, d. i. die</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0114]
gelegene Meliteviertel. Alles dunkel — nur aus einer F^«'? (Fenster) leuchtet
Helle herab. Der 72 Jahre alte Epikur liegt dort auf dem Krankenlager, ge¬
pflegt von seinem treuen Sclaven Mys und von Leontion, die seit sieben Jahren
Wittwe ist. Kein Seufzer kommt über seine Lippen. Freudig zurückschauend
auf ein tugendhaft und weise verbrachtes Leben spottet er aller Qual, mit der
ein heftiges Steinleiden ihn heimsucht, und hält — ein Lieblingsausdruck von
ihm — Seelenwindstille (/«>i,^t^ H i/^/H «6ro5). „Wie oft," flüstert er der
ausdauernden Leontion zu, „wie oft sprach ich euch vom Stier des Phalaris, jenem
ehernen Folterbau, in welchem Phalaris, der scheußliche Tyrann von Agrigent,
vor 300 Jahren die Opfer seiner Grausamkeit verbrennen ließ, wie oft ermahnte
ich euch, wenn man euch auch in den Stier des Phalaris setzte, auszurufen:
,Wie süß ist's! Wie wenig rührt mich das!^ Glaube mir, Leontion, die Folter¬
qualen, welche die armen Stierinsafsen erlitten, waren gewiß nicht heftiger, als
die Schmerzen, welche ich jetzt dulde; aber ich rufe: ,Wie süß ist's! Wie wenig
rührt mich das"' Trat wieder Ebbe in den Schmerzen ein, so mußte ihm Leon¬
tion aus seinen Büchern vorlesen über die Urdinge, über die Seele, über den
Tod. Werfen wir auch in diese Blätter seiner Philosophie noch einen Blick.
„Aus nichts wird nichts; nichts, was wirklich ist, kann vernichtet werden.
Wirkliches Sein kommt nur den Atomen und dem leeren Raume zu. Die Atome
sind kleiner als jede meßbare Größe; sie sind ewig; ihre Zahl ist unbegrenzt,
nicht so ihre Formeu. Weil im leeren Raum kein Widerstand ist, so müssen
alle Körper gleich schnell fallen, aber jedes Atom kann willkürlich eine Kleinigkeit
von der senkrechten Richtung abweichen. Alles Werden und Vergehen besteht
nur in Verbindung und Trennung der Atome. Alles in der Natur geschieht
durch Nothwendigkeit. Die Seele besteht aus den feinsten, dem Feuer und
Lufthauche verwandte» Atomen; wie fein diese sind, geht daraus hervor, daß der
entseelte Körper gerade so viel wiegt, als der beseelte. Mit dem Körper löst
sich auch die Seele. Die Entstehung der Bilder im Verstände kommt von einer
bestündigen Ausstrahlung feiner Theilchen von der Oberfläche der Körper. Auf
diese Art gehen wirkliche Abbilder stofflich in uns ein. Auch das Hören ge¬
schieht durch eine Strömung, die von den tönenden Körpern herrührt. Sobald
der Schall entsteht, wird der Laut aus gewissen Schwellungen gebildet, welche
eine luftühnliche Strömung erzeugen."
Lassen wir den in das System wenig passenden Satz von der Abweichung
der Atome bei Seite, so wird der philosophisch gebildete Leser in den vorge¬
tragenen Sätzen die Hauptprincipien der modernen Naturwissenschaft, des moder¬
nen physikalischen Materialismus erkennen. Sie enthalten vor Allem die beiden
großen Lehrsätze der neueren Physik: den Satz von der Unzerstörbarkeit des
Stoffes und den von der Erhaltung der Kraft, ferner die Ateleologie, d. i. die
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