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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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dasselbe Schicksal wie die Thronrede, d. h. sie wurde vom Volke den Flammen
übergeben.

Am 23. September besetzte die vom Prinzen Friedrich befehligte, 10000
Mann starke holländische Armee den Park und den oberen Theil von Brüssel.
Weiterhin begegnete sie einem unerwartet heftigen Widerstand, vier Tage lang
wurde in den Straßen der Stadt hartnäckig gekämpft, ohne daß die Soldaten
des Königs irgend welche Fortschritte machten. Herren der Hotels, welche den
Park umgaben, und gedeckt von Barrikaden, welche die Straßen sperrten, schlössen
die "Patrioten" die Holländer in einen Kreis von Feuer und Pulverdampf ein.
"Dennoch hätte," sagt Juste, "Brüssel bald haben unterliegen müssen, wenn die aben¬
teuerliche Tapferkeit und Ausdauer dieser Handvoll heroischer Freiwilligen, die
für Vaterland und Freiheit stritten, nicht die Chefs und Soldaten des königlichen
Heeres demoralisirt hätten. (In Wahrheit war es der Umstand, daß denselben
die Zufuhr vou Lebensmitteln abgeschnitten wurde.) Jeden Abend hörte das
Feuer auf, die Bürger verließen ihre Posten, und kaum eine einzige Schildwache
blieb bei den Barrikaden zurück. Ein paar entschlossene Compagnien hätten
sich mit Benutzung der Nacht und der Sorglosigkeit der Patrioten leicht mit
dem Bajonnet jener Gebäude und Barrikaden bemächtigen können, die während
des Tages Tod und Verderben ausspieen, sie hätten sogar bis ins Centrum der
Stadt vordringen können. Aber die Holländer schraken vor diesem Versuche
zurück und verzweifelten nach viertägigem Kampfe am Siege. Montag den
27. September beim Morgengrauen bewirkte die Armee des Prinzen Friedrich
ihren Rückzug nach Mecheln, und Brüssel war frei."

Während der Straßenkampfe hatte sich eine Provisorische Regierung ge¬
bildet, die ihr Mandat der Nothwendigkeit entnahm. Zu Ende des August war
in Brüssel eine Bürgergarde entstanden, die in den ersten Wochen der Krisis
gute Dienste that, aber als sie beim Heranzuge der Holländer am 20. September
ihre Waffe" dem wuthschäumenden Volke abgetreten hatte, war mit ihr alle
Autorität verschwunden, und es drohte eine Anarchie an deren Stelle zu treten,
welche ohne Zweifel den Triumph der Holländer herbeigeführt hätte, wenn sich
nicht Männer gefunden hätten, welche vor der unermeßlichen Verantwortlichkeit
nicht zurückbebten, die sie vor den die Stadt beschießenden feindlichen Batterien
und vor dem Schaffot übernahmen, welches sie im Fall einer Niederlage er¬
wartete.

Am Morgen des 24. September, als das Sturmläuten der Glocken von
Sainte Gudule und der Donner der holländischen Kanonen den Wiederbeginn der
Feindseligkeiten verkündeten, bildete sich im Stadthause eine "Verwaltungs-Com-
mission". "Bürger, einzig und allein von Vaterlandsliebe geleitet, hatten", so
sagten sie in ihrer Proclamation, "eine provisorische Gewalt angenommen, die


dasselbe Schicksal wie die Thronrede, d. h. sie wurde vom Volke den Flammen
übergeben.

Am 23. September besetzte die vom Prinzen Friedrich befehligte, 10000
Mann starke holländische Armee den Park und den oberen Theil von Brüssel.
Weiterhin begegnete sie einem unerwartet heftigen Widerstand, vier Tage lang
wurde in den Straßen der Stadt hartnäckig gekämpft, ohne daß die Soldaten
des Königs irgend welche Fortschritte machten. Herren der Hotels, welche den
Park umgaben, und gedeckt von Barrikaden, welche die Straßen sperrten, schlössen
die „Patrioten" die Holländer in einen Kreis von Feuer und Pulverdampf ein.
„Dennoch hätte," sagt Juste, „Brüssel bald haben unterliegen müssen, wenn die aben¬
teuerliche Tapferkeit und Ausdauer dieser Handvoll heroischer Freiwilligen, die
für Vaterland und Freiheit stritten, nicht die Chefs und Soldaten des königlichen
Heeres demoralisirt hätten. (In Wahrheit war es der Umstand, daß denselben
die Zufuhr vou Lebensmitteln abgeschnitten wurde.) Jeden Abend hörte das
Feuer auf, die Bürger verließen ihre Posten, und kaum eine einzige Schildwache
blieb bei den Barrikaden zurück. Ein paar entschlossene Compagnien hätten
sich mit Benutzung der Nacht und der Sorglosigkeit der Patrioten leicht mit
dem Bajonnet jener Gebäude und Barrikaden bemächtigen können, die während
des Tages Tod und Verderben ausspieen, sie hätten sogar bis ins Centrum der
Stadt vordringen können. Aber die Holländer schraken vor diesem Versuche
zurück und verzweifelten nach viertägigem Kampfe am Siege. Montag den
27. September beim Morgengrauen bewirkte die Armee des Prinzen Friedrich
ihren Rückzug nach Mecheln, und Brüssel war frei."

Während der Straßenkampfe hatte sich eine Provisorische Regierung ge¬
bildet, die ihr Mandat der Nothwendigkeit entnahm. Zu Ende des August war
in Brüssel eine Bürgergarde entstanden, die in den ersten Wochen der Krisis
gute Dienste that, aber als sie beim Heranzuge der Holländer am 20. September
ihre Waffe» dem wuthschäumenden Volke abgetreten hatte, war mit ihr alle
Autorität verschwunden, und es drohte eine Anarchie an deren Stelle zu treten,
welche ohne Zweifel den Triumph der Holländer herbeigeführt hätte, wenn sich
nicht Männer gefunden hätten, welche vor der unermeßlichen Verantwortlichkeit
nicht zurückbebten, die sie vor den die Stadt beschießenden feindlichen Batterien
und vor dem Schaffot übernahmen, welches sie im Fall einer Niederlage er¬
wartete.

Am Morgen des 24. September, als das Sturmläuten der Glocken von
Sainte Gudule und der Donner der holländischen Kanonen den Wiederbeginn der
Feindseligkeiten verkündeten, bildete sich im Stadthause eine „Verwaltungs-Com-
mission". „Bürger, einzig und allein von Vaterlandsliebe geleitet, hatten", so
sagten sie in ihrer Proclamation, „eine provisorische Gewalt angenommen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/103>, abgerufen am 18.06.2024.