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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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unsittlich oder auch nur nothwendigerweise sinnlich. Während bei dem sich
freier in der Welt bewegenden Manne dein Künstler eine Fülle von Beziehungen
zur äußeren Welt zu Gebote stehen, um seine Seele in Bewegung zu setzen, so
wird beim Weibe, für welches sich die Welt im Manne concentrirt, und dessen
Thun und Empfinden obendrein weit mehr als beim Manne unter dem Banne
des Geschlechtes steht, so daß es leicht Alles zu sich in Beziehung setzt, insofern
es Weib, nicht insofern es Mensch ist, gerade das nach dieser Richtung hin
erregte Seelenleben dem Künstler die reichste Gelegenheit geben, die energischsten und
leidenschaftlichsten Empfindungen lebendig werden zu lassen und ergreifend zu ge¬
stalten. Je reiner und höher aber ein Weib empfindet, desto schmerzlicher wird sie
jede Berührung ihrer Weiblichkeit aufschrecken, auch wenn diese Berührung noch
weit davon entfernt ist, eine körperliche zu sein. Auch ein Blick vermag schon
zu kränken und die Empfindung der Verletzung wachzurufen. Dann wird sie
sich zwar in erster Linie körperlich zu decken und zu schützen suchen; zugleich
aber wird der echte Stolz in ihr aufflammen, die ganze Hoheit ihres Wesens
wird sich offenbaren, und die achtunggebietende Ruhe des ungestörten Selbst¬
bewußtseins wird ihr einen sichreren Schutz gewähren, als es die schwachen
Hände vermöchten. Und so wird über der energischen, dem ersten Impuls
gemäß zurückweichenden Bewegung des Körpers die erhabene Ruhe der sieges¬
gewisser Seele in dem stolz erhobenen Haupte thronen und dnrch den fest auf den
Nahenden gerichteten Blick diesem die Schranke stecken, ihn durch Hoheit zurück¬
weisen. Ein solches hoheitsvolles Weib hat uns der Künstler in der melischer
Statue geschaffen und hat mit unerreichbarer Kunst gerade diese die Bewegung
des Körpers überragende, von dem herrlichen Kopfe ausstrahlende Ruhe, Sicher¬
heit und Erhabenheit der Seele zum Ausdruck gebracht, so daß bei der Betrach¬
tung diese Empfindung auch in uns den Sieg davonträgt, ohne daß wir des
Genusses des in Folge der starken Bewegung den Körper durchziehenden
Rhythmus in seinen immer aufs neue zur Verfolgung reizenden mannigfaltigen
Linien verlustig gehen.

Eine solche Behandlung des Grundmotivs entspricht einer von großen
Empfindungen erfüllten und für sie noch empfänglichen Zeit. Es kommt aber
eine andre, in welcher nicht das Hoheitsvolle, sondern gerade das Hilfsbedürf¬
tige als das am Weibe Entzückende erscheint. Da wird der unerwartet Nahende
nicht durch Hoheit zurückgewiesen: gerade der Anblick der hilflos Flehenden ist
es, der ihn entwaffnet und zurückschreckt. Trat nun die Energie der Bewegung
mit der Energie der Seele zurück, so bedürfte es auch des Gewandmotivs nicht,
und es mußte an seine Stelle ein andres treten, das die Nacktheit verständlich
machte: es ist die Ablegung des Gewandes als Vorbereitung zum Bade. Diese
Verwerthung zeigt uus, wenn wir nicht den Münzen, sondern den statuarischen


unsittlich oder auch nur nothwendigerweise sinnlich. Während bei dem sich
freier in der Welt bewegenden Manne dein Künstler eine Fülle von Beziehungen
zur äußeren Welt zu Gebote stehen, um seine Seele in Bewegung zu setzen, so
wird beim Weibe, für welches sich die Welt im Manne concentrirt, und dessen
Thun und Empfinden obendrein weit mehr als beim Manne unter dem Banne
des Geschlechtes steht, so daß es leicht Alles zu sich in Beziehung setzt, insofern
es Weib, nicht insofern es Mensch ist, gerade das nach dieser Richtung hin
erregte Seelenleben dem Künstler die reichste Gelegenheit geben, die energischsten und
leidenschaftlichsten Empfindungen lebendig werden zu lassen und ergreifend zu ge¬
stalten. Je reiner und höher aber ein Weib empfindet, desto schmerzlicher wird sie
jede Berührung ihrer Weiblichkeit aufschrecken, auch wenn diese Berührung noch
weit davon entfernt ist, eine körperliche zu sein. Auch ein Blick vermag schon
zu kränken und die Empfindung der Verletzung wachzurufen. Dann wird sie
sich zwar in erster Linie körperlich zu decken und zu schützen suchen; zugleich
aber wird der echte Stolz in ihr aufflammen, die ganze Hoheit ihres Wesens
wird sich offenbaren, und die achtunggebietende Ruhe des ungestörten Selbst¬
bewußtseins wird ihr einen sichreren Schutz gewähren, als es die schwachen
Hände vermöchten. Und so wird über der energischen, dem ersten Impuls
gemäß zurückweichenden Bewegung des Körpers die erhabene Ruhe der sieges¬
gewisser Seele in dem stolz erhobenen Haupte thronen und dnrch den fest auf den
Nahenden gerichteten Blick diesem die Schranke stecken, ihn durch Hoheit zurück¬
weisen. Ein solches hoheitsvolles Weib hat uns der Künstler in der melischer
Statue geschaffen und hat mit unerreichbarer Kunst gerade diese die Bewegung
des Körpers überragende, von dem herrlichen Kopfe ausstrahlende Ruhe, Sicher¬
heit und Erhabenheit der Seele zum Ausdruck gebracht, so daß bei der Betrach¬
tung diese Empfindung auch in uns den Sieg davonträgt, ohne daß wir des
Genusses des in Folge der starken Bewegung den Körper durchziehenden
Rhythmus in seinen immer aufs neue zur Verfolgung reizenden mannigfaltigen
Linien verlustig gehen.

Eine solche Behandlung des Grundmotivs entspricht einer von großen
Empfindungen erfüllten und für sie noch empfänglichen Zeit. Es kommt aber
eine andre, in welcher nicht das Hoheitsvolle, sondern gerade das Hilfsbedürf¬
tige als das am Weibe Entzückende erscheint. Da wird der unerwartet Nahende
nicht durch Hoheit zurückgewiesen: gerade der Anblick der hilflos Flehenden ist
es, der ihn entwaffnet und zurückschreckt. Trat nun die Energie der Bewegung
mit der Energie der Seele zurück, so bedürfte es auch des Gewandmotivs nicht,
und es mußte an seine Stelle ein andres treten, das die Nacktheit verständlich
machte: es ist die Ablegung des Gewandes als Vorbereitung zum Bade. Diese
Verwerthung zeigt uus, wenn wir nicht den Münzen, sondern den statuarischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/74>, abgerufen am 23.07.2024.