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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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von einer sie gleichmäßig durchdringenden Einheitlichkeit des Ausdrucks beherrschte
aufweist und nichts als nur zufällige Zuthat übrig läßt. Es bleibt jedoch uoch
zu untersuchen, was der Künstler ans diesem Grundmotiv gemacht hat.

Es ist natürlich, daß dieses einfache, im wirklichen Leben sich in den
mannigfaltigsten Aeußerungsarten wiederholende Motiv auch höchst verschieden
aufgefaßt und zur Darstellung gebracht werden konnte. Es kommt eben hierbei
auf den Beobachter an und auf das, was er selbst mitbringt und demgemäß
in seinem Werke zum Ausdruck bringt. Und es will uns dünken, daß gerade
durch eine Verfolgung dieses Gedankens die melische Statue erst in ihrer rich¬
tigen Bedeutung für die Kunstentwicklung erkannt wird.

So bedeutend die Individualität eines Künstlers sein mag, so wird er sich
doch in der Grundausfassuug nicht wesentlich von derjenigen seiner Zeit ent¬
fernen können. Wir vermögen daher mit einiger Sicherheit von dem Grund¬
charakter einer Zeit auf die Art zu schließen, in welcher ein Künstler einen be¬
stimmten Gegenstand behandeln wird, so wie wir umgekehrt das Werk des
Künstlers zur Erkenntniß der Zeit verwerthen dürfen. Ein und dasselbe Motiv
wird uns daher in verschiedenen Zeiten bald großartig, bald kleinlich, bald edel,
bald niedrig entgegentreten, und wir werden hieran die Entwicklung der Kunst
verfolgen dürfen, ohne daß wir zu behaupten brauchen, die Entwicklung finde
in der Weise statt, daß ein Künstler vom andern das Motiv entlehnte, oder gar
daß ein Kunstwerk eine Nachahmung, eine Wiederholung, eine "Replik" des
andern sei, zumal wenn das Grundmotiv der Art ist, daß es jeden Tag durch
eigne Beobachtung neu gewonnen werden kann. Der trotzdem sich ergebende
Zusammenhang liegt in der, was den einzelnen Künstler betrifft, gewöhnlich
wohl absichtslosen Umwandlung der Behandlungsweise, welche innerlich und
äußerlich ein Rückschlag der sich unabänderlich in bestimmter Richtung entfal¬
tenden Entwicklung der Kunst ist. Dies auf die melische Statue angewendet,
ergiebt Folgendes.

Es tritt uns hier zum ersten Mal in der statuarischen griechischen Kunst
das Motiv entgegen, welches, wie es die Möglichkeit höchst verschiedener Auf-
fassuugsweisen in sich trügt, diese in der That auch über sich ergehen lassen
muß: ein Weib sieht sich dem unerwünschten, überraschenden Anblick eines
Mannes ausgesetzt. Wer hierin von vornherein ein sinnliches oder gar ein
unsittliches Motiv sehen wollte, würde durch dieses Urtheil nur zeigen, daß ihm
eine für die Kunstbeurtheilung außerordentlich wichtige Erkenntniß fehlt; das
Sinnliche und das Unsittliche liegt nicht sowohl im Motiv, als vielmehr in der
Behandlungsweise von Seiten des Künstlers und in der Betrachtung^ und
Auffassungsweise von Seiten des Beschauers. So ist denn auch die Verwerthung
der Geschlechtsbeziehuugen zwischen Mann und Weib noch keineswegs an sich


Grenzboten I. 1380. S

von einer sie gleichmäßig durchdringenden Einheitlichkeit des Ausdrucks beherrschte
aufweist und nichts als nur zufällige Zuthat übrig läßt. Es bleibt jedoch uoch
zu untersuchen, was der Künstler ans diesem Grundmotiv gemacht hat.

Es ist natürlich, daß dieses einfache, im wirklichen Leben sich in den
mannigfaltigsten Aeußerungsarten wiederholende Motiv auch höchst verschieden
aufgefaßt und zur Darstellung gebracht werden konnte. Es kommt eben hierbei
auf den Beobachter an und auf das, was er selbst mitbringt und demgemäß
in seinem Werke zum Ausdruck bringt. Und es will uns dünken, daß gerade
durch eine Verfolgung dieses Gedankens die melische Statue erst in ihrer rich¬
tigen Bedeutung für die Kunstentwicklung erkannt wird.

So bedeutend die Individualität eines Künstlers sein mag, so wird er sich
doch in der Grundausfassuug nicht wesentlich von derjenigen seiner Zeit ent¬
fernen können. Wir vermögen daher mit einiger Sicherheit von dem Grund¬
charakter einer Zeit auf die Art zu schließen, in welcher ein Künstler einen be¬
stimmten Gegenstand behandeln wird, so wie wir umgekehrt das Werk des
Künstlers zur Erkenntniß der Zeit verwerthen dürfen. Ein und dasselbe Motiv
wird uns daher in verschiedenen Zeiten bald großartig, bald kleinlich, bald edel,
bald niedrig entgegentreten, und wir werden hieran die Entwicklung der Kunst
verfolgen dürfen, ohne daß wir zu behaupten brauchen, die Entwicklung finde
in der Weise statt, daß ein Künstler vom andern das Motiv entlehnte, oder gar
daß ein Kunstwerk eine Nachahmung, eine Wiederholung, eine „Replik" des
andern sei, zumal wenn das Grundmotiv der Art ist, daß es jeden Tag durch
eigne Beobachtung neu gewonnen werden kann. Der trotzdem sich ergebende
Zusammenhang liegt in der, was den einzelnen Künstler betrifft, gewöhnlich
wohl absichtslosen Umwandlung der Behandlungsweise, welche innerlich und
äußerlich ein Rückschlag der sich unabänderlich in bestimmter Richtung entfal¬
tenden Entwicklung der Kunst ist. Dies auf die melische Statue angewendet,
ergiebt Folgendes.

Es tritt uns hier zum ersten Mal in der statuarischen griechischen Kunst
das Motiv entgegen, welches, wie es die Möglichkeit höchst verschiedener Auf-
fassuugsweisen in sich trügt, diese in der That auch über sich ergehen lassen
muß: ein Weib sieht sich dem unerwünschten, überraschenden Anblick eines
Mannes ausgesetzt. Wer hierin von vornherein ein sinnliches oder gar ein
unsittliches Motiv sehen wollte, würde durch dieses Urtheil nur zeigen, daß ihm
eine für die Kunstbeurtheilung außerordentlich wichtige Erkenntniß fehlt; das
Sinnliche und das Unsittliche liegt nicht sowohl im Motiv, als vielmehr in der
Behandlungsweise von Seiten des Künstlers und in der Betrachtung^ und
Auffassungsweise von Seiten des Beschauers. So ist denn auch die Verwerthung
der Geschlechtsbeziehuugen zwischen Mann und Weib noch keineswegs an sich


Grenzboten I. 1380. S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/73>, abgerufen am 23.07.2024.