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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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offen oder heimlich, in Revolutionen, Verschwörungen oder in stillem geistigen
Schaffen im Kampfe lagen: das Carbonarithum, Mazzini und das junge Italien
mit all den zahlreichen Opfern, welche der große Agitator von 1833 bis 1857
auf die Schlachtbank der Despoten lieferte, die Ugo Foscolo und Manzoni,
Cesare Balbo und Gioberti, die Gelehrten und Dichter als Träger der Unab¬
hängigkeitsidee, dann Pius IX. in seinen ersten glanzerfüllten Regierungsjahren,
Karl Albert und die reformirenden Fürsten, endlich die fanatischen Republikaner
von 1848 und 1849. In den letzten 30 Jahren aber sind es vor allem drei große
Namen, an die sich die Geschichte der Schöpfung des neuen Nationalstaates
knüpft: Garibaldi, Cavour und Victor Emanuel.

Man hat vielfach gesagt, die erschütternde Klage, welche am 9. Januar 1878
die ganze apenninische Halbinsel vom Kamme der Alpen bis zum libyschen
Meere durchtönte, habe nicht der Person des Königs, sie habe dem Namen ge¬
golten, der seit 30 Jahren das Feldgeschrei der Patrioten, das Symbol der
italienischen Einheit, Unabhängigkeit und Freiheit gewesen war; Victor Emanuel
sei mehr vom Geschick als vom eignen Geiste gehoben und getragen worden.
Die folgende Darstellung wird hoffentlich zeigen, daß, wenn der erste König
von Italien keine jener genialen Naturen war, die selbständig bahnbrechend
ihrem Volke den Weg weisen, seine Persönlichkeit doch von der größten Bedeu¬
tung für das gewaltige Werk gewesen ist, welches unter seiner Regierung und
in seinem Namen geschaffen wurde.

Victor Emanuel wurde in Turin am 20. März 1820 als ältester Sohn
des Prinzen Karl Albert von Carignan geboren. Sein Vater, der durch die
Rolle, die er bei der piemontesischen Revolution von 1821 spielte, beim Könige
und der herrschende" österreichischen Partei mißliebig wurde, mußte seine Hei¬
mat verlassen und fand ein Asyl bei seinen toscanischen Verwandten auf dem
Lustschlosse Poggio Jmperiale, zu dem die stattliche Allee altehrwürdiger Cypres-
sen von dem römischen Thore von Florenz hinaufführt. Dort wurde der kleine
Prinz nur durch den Heldenmuth seiner Wärterin, die ihr eigenes Leben für
ihn zum Opfer brachte, vor dem drohenden Verbrennungstode gerettet. Schon
in den ersten Lebensjahren traten in dem Kinde deutlich die Anlagen zu den
Eigenschaften hervor, die später den Mann charakterisirten. Als dreijähriger
Knabe zog er das Soldatenspiel jedem andern vor, liebte das wilde Umher¬
springen im Freien mehr als das Stubensitzen, faßte aber schnell und hielt
das Gelernte fest im Gedächtniß. "Außerordentlich lebhaft, gelehrig, liebevoll,
ist er meine ganze Wonne", schreibt seine Mutter, die treffliche Maria Benedetta,
die Tochter des Großherzogs Ferdinand III. von Toscana, die zur Zeit ihrer
Rückkehr nach Piemont, als seine einzige Lehrerin, dem vierjährigen Knaben
bereits das Lesen beigebracht hatte. Seine späteren Lehrer waren nach italie-


offen oder heimlich, in Revolutionen, Verschwörungen oder in stillem geistigen
Schaffen im Kampfe lagen: das Carbonarithum, Mazzini und das junge Italien
mit all den zahlreichen Opfern, welche der große Agitator von 1833 bis 1857
auf die Schlachtbank der Despoten lieferte, die Ugo Foscolo und Manzoni,
Cesare Balbo und Gioberti, die Gelehrten und Dichter als Träger der Unab¬
hängigkeitsidee, dann Pius IX. in seinen ersten glanzerfüllten Regierungsjahren,
Karl Albert und die reformirenden Fürsten, endlich die fanatischen Republikaner
von 1848 und 1849. In den letzten 30 Jahren aber sind es vor allem drei große
Namen, an die sich die Geschichte der Schöpfung des neuen Nationalstaates
knüpft: Garibaldi, Cavour und Victor Emanuel.

Man hat vielfach gesagt, die erschütternde Klage, welche am 9. Januar 1878
die ganze apenninische Halbinsel vom Kamme der Alpen bis zum libyschen
Meere durchtönte, habe nicht der Person des Königs, sie habe dem Namen ge¬
golten, der seit 30 Jahren das Feldgeschrei der Patrioten, das Symbol der
italienischen Einheit, Unabhängigkeit und Freiheit gewesen war; Victor Emanuel
sei mehr vom Geschick als vom eignen Geiste gehoben und getragen worden.
Die folgende Darstellung wird hoffentlich zeigen, daß, wenn der erste König
von Italien keine jener genialen Naturen war, die selbständig bahnbrechend
ihrem Volke den Weg weisen, seine Persönlichkeit doch von der größten Bedeu¬
tung für das gewaltige Werk gewesen ist, welches unter seiner Regierung und
in seinem Namen geschaffen wurde.

Victor Emanuel wurde in Turin am 20. März 1820 als ältester Sohn
des Prinzen Karl Albert von Carignan geboren. Sein Vater, der durch die
Rolle, die er bei der piemontesischen Revolution von 1821 spielte, beim Könige
und der herrschende» österreichischen Partei mißliebig wurde, mußte seine Hei¬
mat verlassen und fand ein Asyl bei seinen toscanischen Verwandten auf dem
Lustschlosse Poggio Jmperiale, zu dem die stattliche Allee altehrwürdiger Cypres-
sen von dem römischen Thore von Florenz hinaufführt. Dort wurde der kleine
Prinz nur durch den Heldenmuth seiner Wärterin, die ihr eigenes Leben für
ihn zum Opfer brachte, vor dem drohenden Verbrennungstode gerettet. Schon
in den ersten Lebensjahren traten in dem Kinde deutlich die Anlagen zu den
Eigenschaften hervor, die später den Mann charakterisirten. Als dreijähriger
Knabe zog er das Soldatenspiel jedem andern vor, liebte das wilde Umher¬
springen im Freien mehr als das Stubensitzen, faßte aber schnell und hielt
das Gelernte fest im Gedächtniß. „Außerordentlich lebhaft, gelehrig, liebevoll,
ist er meine ganze Wonne", schreibt seine Mutter, die treffliche Maria Benedetta,
die Tochter des Großherzogs Ferdinand III. von Toscana, die zur Zeit ihrer
Rückkehr nach Piemont, als seine einzige Lehrerin, dem vierjährigen Knaben
bereits das Lesen beigebracht hatte. Seine späteren Lehrer waren nach italie-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/58>, abgerufen am 22.07.2024.