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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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der Mensch durch die Arbeit des Erkennens die Idee Gottes erfaßt, bevor er
seinen Willen an die Norm des göttlichen Willens bindet, hat er schon die
Gegenwart Gottes in seinem Gewissen erfahren, hat er in den verborgensten
Tiefen seines Gemüthes die Macht einer unbedingten Autorität empfunden. Wir
sagen: "bevor", obwohl wir hier nicht an eine zeitliche Aufeinanderfolge denken;
nur die logische Priorität wollen wir uns im Bilde der Zeitvorstellung ver¬
gegenwärtigen.

Wir betrachteten aber das Gemüth auch als den Quell der Phantasie,
deren wesentlichen Gegenstand die ideale Welt bildet. Alle Kunst und alle Poesie
ist eine thatsächliche Correctur der Wirklichkeit. Deu Ideen, die hier nur in
mangelhafter Weise Gestalt gewinnen, verleiht sie in der Sphäre des Schein¬
daseins eine vollkommnere Geltung. Ist nun diese ideale Welt nur ein Gebilde
der Phantasie, nur eine Illusion, dann ist die Rückkehr aus ihren Gefilden in
dies irdische Dasein nothwendig eine schmerzhafte, und die Klage des Dichters
hat ein Recht:


Ach, kein Steg will dahin führen,
Ach, der Himmel über mir
Will die Erde nie berühren,
Und das Dort ist niemals Hier!

Aber wie, wenn Poesie und Kunst Prophetinnen einer höheren Daseinsweise
sind, in welcher sittliche und natürliche Ordnung harmonisch sich begegnen,
wenn der Verlauf des menschlichen Lebens, der hier so oft in disharmonischen
Tönen ausklingt, eine Fortsetzung und innere Vollendung findet, in welcher der
Streit sich in Frieden wandelt? Denn vereinigt sich Poesie und Kunst mit
religiösen Gefühlen, da keine menschliche Thätigkeit, nur das schöpferische Wirken
Gottes diese Einheit zwischen sittlichem Werth und Zustand des Seins hervor¬
bringen kann; Gott, in dem wir die vollkommne unlösbare Identität beider
erkennen.

So tritt in der Religion der Mensch in die Sphäre des ewigen, unend¬
lichen Seins, seine unsichtbare Welt wird durch die Gemeinschaft mit Gott von
den Kräften des vollendeten Seins erfüllt.

Das religiöse Leben ist nun aber das Werk der Freiheit. Das Sein
Gottes läßt sich durch keine wissenschaftliche Demonstration zur völligen Evidenz
bringen. Auch wer günstiger über die Beweise für das Dasein Gottes denkt,
als jetzt üblich geworden ist, wird dies zugestehen. Wäre es anders, so hätte
es nie wissenschaftliche Systeme gegeben, welche Gottes als einer unnützen
Hypothese entbehren zu können meinen; nie Systeme, welche ein wissenschaftliches
Erkennen über die Grenzen der räumlichen und zeitlichen Erscheinung hinaus
für unmöglich erklären.


der Mensch durch die Arbeit des Erkennens die Idee Gottes erfaßt, bevor er
seinen Willen an die Norm des göttlichen Willens bindet, hat er schon die
Gegenwart Gottes in seinem Gewissen erfahren, hat er in den verborgensten
Tiefen seines Gemüthes die Macht einer unbedingten Autorität empfunden. Wir
sagen: „bevor", obwohl wir hier nicht an eine zeitliche Aufeinanderfolge denken;
nur die logische Priorität wollen wir uns im Bilde der Zeitvorstellung ver¬
gegenwärtigen.

Wir betrachteten aber das Gemüth auch als den Quell der Phantasie,
deren wesentlichen Gegenstand die ideale Welt bildet. Alle Kunst und alle Poesie
ist eine thatsächliche Correctur der Wirklichkeit. Deu Ideen, die hier nur in
mangelhafter Weise Gestalt gewinnen, verleiht sie in der Sphäre des Schein¬
daseins eine vollkommnere Geltung. Ist nun diese ideale Welt nur ein Gebilde
der Phantasie, nur eine Illusion, dann ist die Rückkehr aus ihren Gefilden in
dies irdische Dasein nothwendig eine schmerzhafte, und die Klage des Dichters
hat ein Recht:


Ach, kein Steg will dahin führen,
Ach, der Himmel über mir
Will die Erde nie berühren,
Und das Dort ist niemals Hier!

Aber wie, wenn Poesie und Kunst Prophetinnen einer höheren Daseinsweise
sind, in welcher sittliche und natürliche Ordnung harmonisch sich begegnen,
wenn der Verlauf des menschlichen Lebens, der hier so oft in disharmonischen
Tönen ausklingt, eine Fortsetzung und innere Vollendung findet, in welcher der
Streit sich in Frieden wandelt? Denn vereinigt sich Poesie und Kunst mit
religiösen Gefühlen, da keine menschliche Thätigkeit, nur das schöpferische Wirken
Gottes diese Einheit zwischen sittlichem Werth und Zustand des Seins hervor¬
bringen kann; Gott, in dem wir die vollkommne unlösbare Identität beider
erkennen.

So tritt in der Religion der Mensch in die Sphäre des ewigen, unend¬
lichen Seins, seine unsichtbare Welt wird durch die Gemeinschaft mit Gott von
den Kräften des vollendeten Seins erfüllt.

Das religiöse Leben ist nun aber das Werk der Freiheit. Das Sein
Gottes läßt sich durch keine wissenschaftliche Demonstration zur völligen Evidenz
bringen. Auch wer günstiger über die Beweise für das Dasein Gottes denkt,
als jetzt üblich geworden ist, wird dies zugestehen. Wäre es anders, so hätte
es nie wissenschaftliche Systeme gegeben, welche Gottes als einer unnützen
Hypothese entbehren zu können meinen; nie Systeme, welche ein wissenschaftliches
Erkennen über die Grenzen der räumlichen und zeitlichen Erscheinung hinaus
für unmöglich erklären.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/544>, abgerufen am 23.07.2024.