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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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in sich vereinigt. Die Helden der Geschichte scheinen weniger nnter dein Ein¬
drucke der jeweilige!: Verhältnisse zu handeln als unter dem Einflüsse der
Macht des Geschickes; und dieses Geschick führt der Dichter entweder ans höhere
Gewalten zurück, die von außen an den Helden herantreten, oder er verlegt
seine Schicksalssterne in die Brust desselben und sieht in allen seinen Thaten
nichts als Offenbarungen seines Charakters, wie sich derselbe nnter der Situation,
in welche er durch den Lauf der Geschichte gestellt ist, zu einer eigenthümlichen,
um nicht zu sagen typischen Ausprägung entwickelt hat.

Ein solches Geschichtsbild, in welchem geschichtliche Wahrheit und ästhetische
Dichtung mit einander verschmolzen sind, ist auch Schillers Geschichte des
30jährigen Kriegs. Ebenso wie im Drama vertreten hier die einzelnen Helden
verschiedene Seiten des Charakters, und ihre Handlungen stellen sich dar als
das Spiegelbild ihres inneren Menschen, wie ihn der Dichter sich in seiner Phan¬
tasie gedacht hatte. Ueberall zeigt sich auch echt dramatische Steigerung, ein
poetischer Pragmatismus, der über den der Geschichte weit hinausgeht: Schiller
sieht in dem Gange der geschichtlichen Ereignisse den Zusammenhang nicht bloß
von Grund und Folge, sondern auch den unmittelbaren Causalnexus von Schuld
und Vergeltung. Von dem dunkeln Hintergrunde des Charakters und der
Gräuelthaten Tillys hebt sich um so strahlender das Lichtbild des großen
Königs ab; aber bei der Verkeilung von Licht und Schatten hat der Dichter
retouchirend nachgeholfen, und es fehlt wenig, daß beide Kriegshelden nicht mehr
als charakteristische Persönlichkeiten, sondern als Typen von Charakteren erscheinen.
Die Niederlage Tillys bei Breitenfeld erscheint als die unmittelbare Vergeltung
für die grausame Zerstörung Magdeburgs, und neben dieser, von sittlichen
Postulaten ausgehenden Auffassung treten die Ereignisse der Zwischenzeit
-- das unermüdliche Ringen Gustav Adolfs mit taufenden von Hindernissen und
die Fehler auf gegnerischer Seite -- fast in den Hintergrund. Ja der Dichter
verschmäht zur Vervollständigung seines dramatischen Gemäldes auch nicht die
Welt der Vorahnungen und Vorbedeutungen, welche Goethe in seinem bekannten
Briefe an Schiller über die dramatische Kunst als den Ersatz bezeichnet, den
die moderne Dichtung an Stelle des unmittelbaren Eingreifens der Gottheit
im antiken Drama und Epos zur Belebung des dramatischen Effectes verwenden
müsse. Dies zeigt die Scene im Hause des Todtengräbers in der Hallischen
Vorstadt Leipzigs, wo Tilly inmitten von Todtengebeinen und unter düsteren
Ahnungen den Plan zur Schlacht bei Breitenfeld entwirft.

Aber diese Gestaltung hatte die Geschichte des 30jährigen Krieges unter
den Händen Schillers angenommen, ohne daß sich dieser überhaupt bewußt
war, daß er die geschichtliche Wahrheit nicht nur in vielen Einzelheiten, sondern
auch in der gesammten Auffassung der Ereignisse und in der Beurtheilung der


in sich vereinigt. Die Helden der Geschichte scheinen weniger nnter dein Ein¬
drucke der jeweilige!: Verhältnisse zu handeln als unter dem Einflüsse der
Macht des Geschickes; und dieses Geschick führt der Dichter entweder ans höhere
Gewalten zurück, die von außen an den Helden herantreten, oder er verlegt
seine Schicksalssterne in die Brust desselben und sieht in allen seinen Thaten
nichts als Offenbarungen seines Charakters, wie sich derselbe nnter der Situation,
in welche er durch den Lauf der Geschichte gestellt ist, zu einer eigenthümlichen,
um nicht zu sagen typischen Ausprägung entwickelt hat.

Ein solches Geschichtsbild, in welchem geschichtliche Wahrheit und ästhetische
Dichtung mit einander verschmolzen sind, ist auch Schillers Geschichte des
30jährigen Kriegs. Ebenso wie im Drama vertreten hier die einzelnen Helden
verschiedene Seiten des Charakters, und ihre Handlungen stellen sich dar als
das Spiegelbild ihres inneren Menschen, wie ihn der Dichter sich in seiner Phan¬
tasie gedacht hatte. Ueberall zeigt sich auch echt dramatische Steigerung, ein
poetischer Pragmatismus, der über den der Geschichte weit hinausgeht: Schiller
sieht in dem Gange der geschichtlichen Ereignisse den Zusammenhang nicht bloß
von Grund und Folge, sondern auch den unmittelbaren Causalnexus von Schuld
und Vergeltung. Von dem dunkeln Hintergrunde des Charakters und der
Gräuelthaten Tillys hebt sich um so strahlender das Lichtbild des großen
Königs ab; aber bei der Verkeilung von Licht und Schatten hat der Dichter
retouchirend nachgeholfen, und es fehlt wenig, daß beide Kriegshelden nicht mehr
als charakteristische Persönlichkeiten, sondern als Typen von Charakteren erscheinen.
Die Niederlage Tillys bei Breitenfeld erscheint als die unmittelbare Vergeltung
für die grausame Zerstörung Magdeburgs, und neben dieser, von sittlichen
Postulaten ausgehenden Auffassung treten die Ereignisse der Zwischenzeit
— das unermüdliche Ringen Gustav Adolfs mit taufenden von Hindernissen und
die Fehler auf gegnerischer Seite — fast in den Hintergrund. Ja der Dichter
verschmäht zur Vervollständigung seines dramatischen Gemäldes auch nicht die
Welt der Vorahnungen und Vorbedeutungen, welche Goethe in seinem bekannten
Briefe an Schiller über die dramatische Kunst als den Ersatz bezeichnet, den
die moderne Dichtung an Stelle des unmittelbaren Eingreifens der Gottheit
im antiken Drama und Epos zur Belebung des dramatischen Effectes verwenden
müsse. Dies zeigt die Scene im Hause des Todtengräbers in der Hallischen
Vorstadt Leipzigs, wo Tilly inmitten von Todtengebeinen und unter düsteren
Ahnungen den Plan zur Schlacht bei Breitenfeld entwirft.

Aber diese Gestaltung hatte die Geschichte des 30jährigen Krieges unter
den Händen Schillers angenommen, ohne daß sich dieser überhaupt bewußt
war, daß er die geschichtliche Wahrheit nicht nur in vielen Einzelheiten, sondern
auch in der gesammten Auffassung der Ereignisse und in der Beurtheilung der


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[0506] in sich vereinigt. Die Helden der Geschichte scheinen weniger nnter dein Ein¬ drucke der jeweilige!: Verhältnisse zu handeln als unter dem Einflüsse der Macht des Geschickes; und dieses Geschick führt der Dichter entweder ans höhere Gewalten zurück, die von außen an den Helden herantreten, oder er verlegt seine Schicksalssterne in die Brust desselben und sieht in allen seinen Thaten nichts als Offenbarungen seines Charakters, wie sich derselbe nnter der Situation, in welche er durch den Lauf der Geschichte gestellt ist, zu einer eigenthümlichen, um nicht zu sagen typischen Ausprägung entwickelt hat. Ein solches Geschichtsbild, in welchem geschichtliche Wahrheit und ästhetische Dichtung mit einander verschmolzen sind, ist auch Schillers Geschichte des 30jährigen Kriegs. Ebenso wie im Drama vertreten hier die einzelnen Helden verschiedene Seiten des Charakters, und ihre Handlungen stellen sich dar als das Spiegelbild ihres inneren Menschen, wie ihn der Dichter sich in seiner Phan¬ tasie gedacht hatte. Ueberall zeigt sich auch echt dramatische Steigerung, ein poetischer Pragmatismus, der über den der Geschichte weit hinausgeht: Schiller sieht in dem Gange der geschichtlichen Ereignisse den Zusammenhang nicht bloß von Grund und Folge, sondern auch den unmittelbaren Causalnexus von Schuld und Vergeltung. Von dem dunkeln Hintergrunde des Charakters und der Gräuelthaten Tillys hebt sich um so strahlender das Lichtbild des großen Königs ab; aber bei der Verkeilung von Licht und Schatten hat der Dichter retouchirend nachgeholfen, und es fehlt wenig, daß beide Kriegshelden nicht mehr als charakteristische Persönlichkeiten, sondern als Typen von Charakteren erscheinen. Die Niederlage Tillys bei Breitenfeld erscheint als die unmittelbare Vergeltung für die grausame Zerstörung Magdeburgs, und neben dieser, von sittlichen Postulaten ausgehenden Auffassung treten die Ereignisse der Zwischenzeit — das unermüdliche Ringen Gustav Adolfs mit taufenden von Hindernissen und die Fehler auf gegnerischer Seite — fast in den Hintergrund. Ja der Dichter verschmäht zur Vervollständigung seines dramatischen Gemäldes auch nicht die Welt der Vorahnungen und Vorbedeutungen, welche Goethe in seinem bekannten Briefe an Schiller über die dramatische Kunst als den Ersatz bezeichnet, den die moderne Dichtung an Stelle des unmittelbaren Eingreifens der Gottheit im antiken Drama und Epos zur Belebung des dramatischen Effectes verwenden müsse. Dies zeigt die Scene im Hause des Todtengräbers in der Hallischen Vorstadt Leipzigs, wo Tilly inmitten von Todtengebeinen und unter düsteren Ahnungen den Plan zur Schlacht bei Breitenfeld entwirft. Aber diese Gestaltung hatte die Geschichte des 30jährigen Krieges unter den Händen Schillers angenommen, ohne daß sich dieser überhaupt bewußt war, daß er die geschichtliche Wahrheit nicht nur in vielen Einzelheiten, sondern auch in der gesammten Auffassung der Ereignisse und in der Beurtheilung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/506>, abgerufen am 22.07.2024.