Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.ist doch die Menschenstüume unleugbar das älteste Musikinstrument! Sie hat ist doch die Menschenstüume unleugbar das älteste Musikinstrument! Sie hat <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0050" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/145979"/> <p xml:id="ID_115" prev="#ID_114"> ist doch die Menschenstüume unleugbar das älteste Musikinstrument! Sie hat<lb/> aber erst nach ihrer Trennung vom Worte jene leichte Beweglichkeit und un¬<lb/> endliche Vielgestaltigkeit gewonnen, welche in unsern Symphonien sich so herrlich<lb/> documentirt. Immer und immer wieder erführe freilich die absolute Musik neue<lb/> Bereicherungen durch die Gesangsmusik, ihre Ausdruckssähigkeit vertieft sich, in¬<lb/> dem sie aus dem Urborne, aus welchem sie geflossen, neue Stärkung erhält.<lb/> Denn gewiß kann auch der Inhalt des rein musikalischen Kunstwerkes kein<lb/> anderer sein als menschliches Empfinden, und damit es nicht zum leeren, un¬<lb/> verstandenen, weil unempfundenen Formenwesen wird, muß die Verbindung der<lb/> Musik mit dem Worte immer wieder den zeitgemäßen Ausdruck sür das Seelen¬<lb/> leben feststellen; aber was im Gesangswerk, sei es im Liede, der Cantate oder<lb/> der Oper, Ausdruck für das concrete gegenständliche Empfinden ist, das wird der<lb/> Jnstrumentaleomponist verallgemeinern und entsinnlichen, sodaß der Inhalt der<lb/> absoluten Musik, der reinen Musik, der gegenstandslose Affect ist und immer<lb/> wieder wird, ein Bild des Seelenlebens ohne die rauhen Mißklänge und die<lb/> stofflichen Hemmnisse der Wirklichkeit. Das wird wohl auch der erasseste Vertreter<lb/> der Wagner-Partei nicht leugnen, daß dasselbe Motiv für ähnliche Stimmungs¬<lb/> momente verschiedenster Situationen gebraucht werden kann, gebraucht worden<lb/> ist und gebraucht werden wird, mit andern Worten daß es nicht die Situation,<lb/> sondern der allgemeine Stümnungsgehalt ist, was das Motiv ausdrückt. Die<lb/> symbolische Bedeutung, welche ein Motiv erlangen kann durch die specielle<lb/> Situation, sür welche es zuerst gebracht wurde (Leitmotiv), wird man hoffent¬<lb/> lich nicht als Gegenbeweis anführen wollen; die Logik wäre fehr bedenklich,<lb/> da jene Bedeutung eben nicht im Motiv, fondern doch nur in der Situation<lb/> liegen kann. Der absolute Musiker hat nun mit Situationen gar nichts zu<lb/> thun, sondern bewegt sich ganz unabhängig von der concreten Wirklichkeit im<lb/> seelischen Empfinden. Was im concreten Falle als adäquater Ausdruck der<lb/> Stimmung empfunden wird, muß auch absolut einen festen Stimmungsgehalt<lb/> haben, sonst wäre es nicht denkbar, daß ein Lied schlecht componirt, daß die<lb/> Stimmung nicht getroffen würde. Es ist darum nicht nnr möglich, sondern<lb/> sichere Thatsache, daß in der reinen Musik ein vielleicht uicht in Worte faßbarer,<lb/> weil eben nicht concreter, darum aber nicht minder positiver Gehalt pulsirt, ein<lb/> Stück Seelenleben, wahres, echtes Leben. Die erhebende, läuternde, erlösende<lb/> Kraft der Musik kann sich gerade darum viel mehr in der absoluten Musik als<lb/> in der illustrirenden geltend machen. Wer das bei einem Beethovenschen Adagio<lb/> nicht ebenso stark empfindet wie bei einer Wagnerschen Opernseene, der ist für<lb/> Musik nur in sehr beschränktem Maße empfänglich. Nur allzuleicht vergißt<lb/> man aber, was bei der Gesangsmusik auf Rechnung des Wortes und was auf<lb/> Rechnung der Musik zu setzen ist!</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0050]
ist doch die Menschenstüume unleugbar das älteste Musikinstrument! Sie hat
aber erst nach ihrer Trennung vom Worte jene leichte Beweglichkeit und un¬
endliche Vielgestaltigkeit gewonnen, welche in unsern Symphonien sich so herrlich
documentirt. Immer und immer wieder erführe freilich die absolute Musik neue
Bereicherungen durch die Gesangsmusik, ihre Ausdruckssähigkeit vertieft sich, in¬
dem sie aus dem Urborne, aus welchem sie geflossen, neue Stärkung erhält.
Denn gewiß kann auch der Inhalt des rein musikalischen Kunstwerkes kein
anderer sein als menschliches Empfinden, und damit es nicht zum leeren, un¬
verstandenen, weil unempfundenen Formenwesen wird, muß die Verbindung der
Musik mit dem Worte immer wieder den zeitgemäßen Ausdruck sür das Seelen¬
leben feststellen; aber was im Gesangswerk, sei es im Liede, der Cantate oder
der Oper, Ausdruck für das concrete gegenständliche Empfinden ist, das wird der
Jnstrumentaleomponist verallgemeinern und entsinnlichen, sodaß der Inhalt der
absoluten Musik, der reinen Musik, der gegenstandslose Affect ist und immer
wieder wird, ein Bild des Seelenlebens ohne die rauhen Mißklänge und die
stofflichen Hemmnisse der Wirklichkeit. Das wird wohl auch der erasseste Vertreter
der Wagner-Partei nicht leugnen, daß dasselbe Motiv für ähnliche Stimmungs¬
momente verschiedenster Situationen gebraucht werden kann, gebraucht worden
ist und gebraucht werden wird, mit andern Worten daß es nicht die Situation,
sondern der allgemeine Stümnungsgehalt ist, was das Motiv ausdrückt. Die
symbolische Bedeutung, welche ein Motiv erlangen kann durch die specielle
Situation, sür welche es zuerst gebracht wurde (Leitmotiv), wird man hoffent¬
lich nicht als Gegenbeweis anführen wollen; die Logik wäre fehr bedenklich,
da jene Bedeutung eben nicht im Motiv, fondern doch nur in der Situation
liegen kann. Der absolute Musiker hat nun mit Situationen gar nichts zu
thun, sondern bewegt sich ganz unabhängig von der concreten Wirklichkeit im
seelischen Empfinden. Was im concreten Falle als adäquater Ausdruck der
Stimmung empfunden wird, muß auch absolut einen festen Stimmungsgehalt
haben, sonst wäre es nicht denkbar, daß ein Lied schlecht componirt, daß die
Stimmung nicht getroffen würde. Es ist darum nicht nnr möglich, sondern
sichere Thatsache, daß in der reinen Musik ein vielleicht uicht in Worte faßbarer,
weil eben nicht concreter, darum aber nicht minder positiver Gehalt pulsirt, ein
Stück Seelenleben, wahres, echtes Leben. Die erhebende, läuternde, erlösende
Kraft der Musik kann sich gerade darum viel mehr in der absoluten Musik als
in der illustrirenden geltend machen. Wer das bei einem Beethovenschen Adagio
nicht ebenso stark empfindet wie bei einer Wagnerschen Opernseene, der ist für
Musik nur in sehr beschränktem Maße empfänglich. Nur allzuleicht vergißt
man aber, was bei der Gesangsmusik auf Rechnung des Wortes und was auf
Rechnung der Musik zu setzen ist!
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