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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Temperamente, die Anschauungen über Sitte, Recht, über alles Diesseitige
und Jenseitige sind bei den Niederländern dieselben wie bei den Norddeutschen
sächsischen Stammes; beide sind unter den Brüdern germanischer Abkunft die,
welche sich am besten verstehen. Wäre Bruder Michel nicht durch die inneren
Kämpfe um seine Freiheit von päpstlicher und habsburgischer Allgewalt nach
außen so ohnmächtig geworden, hätte er den Bruder Jan, als dieser mit der
spanischen Weltmacht auf den Tod kämpfte, unter seinem Schirm und Schild
behalten können, so würden die Niederlande weder Brasilien, noch das Capland,
noch Ceylon verloren haben, und diese Länder, die zu den schönsten und reichsten
der Erde zählen, gehörten Deutschland. Diese Chancen sind nun verspielt, weil
die deutschen Staatsmänner seit dem 16. Jahrhundert besser im Himmel als
auf Erden bewandert waren, und seit Cromwell hat Bruder John Bull sich
daran gewöhnt, sich als nächsten Erben des Bruder Jan zu betrachten, ihn bei
seinen Lebzeiten zu plündern und durch den guten Bruder Michel seine Conti-
nentalkriege führen zu lassen. Wird das auch ferner so bleiben? Bruder John
bezeigt dazu nicht übel Lust; ihm liegt daran, unsere Rancune mit Frankreich
lebendig zu erhalten und uns mit Rußland zusammenzusetzen; während diese
beiden uns ins Gedränge brächten, würde Bruder John den Bruder Jan zu
Ende beerben und mit den Molukken und Sunda-Jnseln seine australische" Be¬
sitzungen arrondiren. Welche Erleichterung für den Steuerdruck von Gro߬
britannien, welcher neue Aufschwung für den großbritannischen Handel wäre
damit nicht gegeben?

Für Deutschland würde dies die große Gefahr involviren, daß, während
Frankreich sich in Nordafrika, Rußland sich im nördlichen Asien ausdehnen, so
zu sagen seine Beine prolongiren kann, wir nirgends auf der Erde einen Platz
hätten, wo unsere Auswanderer nicht ihre Nationalität verlieren müßten. Wenn
die deutsche Politik sich damit begnügt, nur die Großmachtstellung in Europa
zu sichern, wenn sie jetzt darauf verzichtet, eine Weltmacht zu schaffen, so wird
sie niemals mehr eine solche schaffen können. So lange noch holländische Be¬
sitzungen da sind, die Großbritannien nicht annectirt hat, ist eben für Deutsch¬
land die Möglichkeit gegeben, daß es ebenfalls seine Beine prolongiren kann,
und hieraus ergiebt sich die große Wichtigkeit der Transvaal-Frage für Deutsch¬
land. Der brittische Uebermuth, unter dem der deutsche Auswanderer ungern
wohnt, hat dafür gesorgt, daß noch eine Stelle der Erde übrig ist, in den
Deutschland seinen Ueberschuß an Kraft ergießen kann, ohne ihn zu verliere".
Die Zähigkeit, mit der die Abkömmlinge der Niederländer in Südafrika ihre
Sprache, ihre Nationalität in Sitten und Einrichtungen des Lebens festhalten,
ohne den Vorzügen englischer Bildung sich ganz zu verschließen, und die noch
größere Zähigkeit, mit der ein Theil der Männer holländischen Blutes, die


Temperamente, die Anschauungen über Sitte, Recht, über alles Diesseitige
und Jenseitige sind bei den Niederländern dieselben wie bei den Norddeutschen
sächsischen Stammes; beide sind unter den Brüdern germanischer Abkunft die,
welche sich am besten verstehen. Wäre Bruder Michel nicht durch die inneren
Kämpfe um seine Freiheit von päpstlicher und habsburgischer Allgewalt nach
außen so ohnmächtig geworden, hätte er den Bruder Jan, als dieser mit der
spanischen Weltmacht auf den Tod kämpfte, unter seinem Schirm und Schild
behalten können, so würden die Niederlande weder Brasilien, noch das Capland,
noch Ceylon verloren haben, und diese Länder, die zu den schönsten und reichsten
der Erde zählen, gehörten Deutschland. Diese Chancen sind nun verspielt, weil
die deutschen Staatsmänner seit dem 16. Jahrhundert besser im Himmel als
auf Erden bewandert waren, und seit Cromwell hat Bruder John Bull sich
daran gewöhnt, sich als nächsten Erben des Bruder Jan zu betrachten, ihn bei
seinen Lebzeiten zu plündern und durch den guten Bruder Michel seine Conti-
nentalkriege führen zu lassen. Wird das auch ferner so bleiben? Bruder John
bezeigt dazu nicht übel Lust; ihm liegt daran, unsere Rancune mit Frankreich
lebendig zu erhalten und uns mit Rußland zusammenzusetzen; während diese
beiden uns ins Gedränge brächten, würde Bruder John den Bruder Jan zu
Ende beerben und mit den Molukken und Sunda-Jnseln seine australische» Be¬
sitzungen arrondiren. Welche Erleichterung für den Steuerdruck von Gro߬
britannien, welcher neue Aufschwung für den großbritannischen Handel wäre
damit nicht gegeben?

Für Deutschland würde dies die große Gefahr involviren, daß, während
Frankreich sich in Nordafrika, Rußland sich im nördlichen Asien ausdehnen, so
zu sagen seine Beine prolongiren kann, wir nirgends auf der Erde einen Platz
hätten, wo unsere Auswanderer nicht ihre Nationalität verlieren müßten. Wenn
die deutsche Politik sich damit begnügt, nur die Großmachtstellung in Europa
zu sichern, wenn sie jetzt darauf verzichtet, eine Weltmacht zu schaffen, so wird
sie niemals mehr eine solche schaffen können. So lange noch holländische Be¬
sitzungen da sind, die Großbritannien nicht annectirt hat, ist eben für Deutsch¬
land die Möglichkeit gegeben, daß es ebenfalls seine Beine prolongiren kann,
und hieraus ergiebt sich die große Wichtigkeit der Transvaal-Frage für Deutsch¬
land. Der brittische Uebermuth, unter dem der deutsche Auswanderer ungern
wohnt, hat dafür gesorgt, daß noch eine Stelle der Erde übrig ist, in den
Deutschland seinen Ueberschuß an Kraft ergießen kann, ohne ihn zu verliere«.
Die Zähigkeit, mit der die Abkömmlinge der Niederländer in Südafrika ihre
Sprache, ihre Nationalität in Sitten und Einrichtungen des Lebens festhalten,
ohne den Vorzügen englischer Bildung sich ganz zu verschließen, und die noch
größere Zähigkeit, mit der ein Theil der Männer holländischen Blutes, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/494>, abgerufen am 23.07.2024.