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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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der Chorgesang alsbald jener neuen herrlichen Blüthe des kirchlichen Lebens:
der geistlichen Volkslieder.

Diese Volkslieder wurden jedoch nicht, wie man es sich gewöhnlich zu
denken Pflegt, dem Gemeindegesange überliefert; die evangelischen Tonmeister
bearbeiteten sie vielmehr ausschließlich für den Vortrag des kunstmäßig geschulten
Chors und der Mehrzahl nach wohl zum Gebrauche an Stelle der drei wech¬
selnden Meßtexte. Vorübergehend, aber auch nur vorübergehend, kam man
gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf den Einfall, diesen Chorgesang geistlicher
Lieder mit dem Gemeindegesange in Verbindung zu setzen. Sehr bald verließ
man aber diesen Weg wieder, denn der scheinbar so glückliche Einfall war in
Wirklichkeit ein höchst unglücklicher, was besonders deswegen betont zu werden
verdient, weil auch in neuester Zeit Einige auf diesen Gedanken zurückgekommen
sind und darin die Lösung der Frage nach der richtigen Verwendung des
Kirchenchores zu finden glauben. Es liegt ja auf der Hand, daß bei einer
solchen unorganischen Verbindung von Chor- und Gemeindegesang das von
ersterem gesungene Kunstwerk durch die unproportionirte Tonmasse in der Ober¬
stimme und durch den schwerfälligen und unreinen Fluß des Gemeindegesanges
verdeckt und zerstört werden muß, ohne daß doch der Gemeindegesang dadurch
eine wesentliche Besserung erfährt. Wenn Goethe einmal als wesentliches Merk¬
mal der Dilettantenleistung die Jmperfectibilitüt bezeichnet, so gilt dies in vollem
Maße auch für den kirchlichen Gemeindegesang, der ja dem künstlerisch geschulten
Chor gegenüber eine Dilettantenleistnng ist. Er kann zwar besser oder schlechter
sein, aber bis zu einer Kunstleistung läßt er sich niemals steigern, schon darum
uicht, weil seine Tonmasse immer zum bedeutenden Theil aus rohen und unrein
singenden Stimmen besteht.

Um das Jahr 1630 verbreitete sich allgemein die Einrichtung, dem Ge¬
meindegesang die Orgel zur Begleiterin zu geben. Auf dem Chor bürgerte sich
um dieselbe Zeit das Orchester mehr und mehr als unentbehrliche Stütze des
Voealchors ein und zwar in beiden Kirchen, wie denn ihre musikalische Ent¬
wicklung sich überhaupt eine Zeit lang in parallelen Bahnen bewegt.

Seit dem Anfange des 17. Jahrhunderts drang nämlich, von Italien aus¬
gehend, ein ganz neuer Stil auch in die gesammte Kirchenmusik ein, welcher
seinen Ausgangspunkt und sein Vorbild in der sich in Italien um diese Zeit
entwickelnden Oper fand. Die charakteristischen Kennzeichen dieses Stiles sind:
der monodische, d. h. der im Gegensatz zum Chorgesang auf Einzelstimmen be¬
rechnete Gesang, welcher sich um in Recitativen, Arien, Duetten u. s. w. in
mannigfacher Weise mit dem Chorgesange verband. Der Form nach hatte man
darin unverkennbar schon den Keim der späteren Cantate vor sich; dem Inhalte
nach hielten aber diese Gesänge noch streng an der kirchlichen Ueberlieferung


der Chorgesang alsbald jener neuen herrlichen Blüthe des kirchlichen Lebens:
der geistlichen Volkslieder.

Diese Volkslieder wurden jedoch nicht, wie man es sich gewöhnlich zu
denken Pflegt, dem Gemeindegesange überliefert; die evangelischen Tonmeister
bearbeiteten sie vielmehr ausschließlich für den Vortrag des kunstmäßig geschulten
Chors und der Mehrzahl nach wohl zum Gebrauche an Stelle der drei wech¬
selnden Meßtexte. Vorübergehend, aber auch nur vorübergehend, kam man
gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf den Einfall, diesen Chorgesang geistlicher
Lieder mit dem Gemeindegesange in Verbindung zu setzen. Sehr bald verließ
man aber diesen Weg wieder, denn der scheinbar so glückliche Einfall war in
Wirklichkeit ein höchst unglücklicher, was besonders deswegen betont zu werden
verdient, weil auch in neuester Zeit Einige auf diesen Gedanken zurückgekommen
sind und darin die Lösung der Frage nach der richtigen Verwendung des
Kirchenchores zu finden glauben. Es liegt ja auf der Hand, daß bei einer
solchen unorganischen Verbindung von Chor- und Gemeindegesang das von
ersterem gesungene Kunstwerk durch die unproportionirte Tonmasse in der Ober¬
stimme und durch den schwerfälligen und unreinen Fluß des Gemeindegesanges
verdeckt und zerstört werden muß, ohne daß doch der Gemeindegesang dadurch
eine wesentliche Besserung erfährt. Wenn Goethe einmal als wesentliches Merk¬
mal der Dilettantenleistung die Jmperfectibilitüt bezeichnet, so gilt dies in vollem
Maße auch für den kirchlichen Gemeindegesang, der ja dem künstlerisch geschulten
Chor gegenüber eine Dilettantenleistnng ist. Er kann zwar besser oder schlechter
sein, aber bis zu einer Kunstleistung läßt er sich niemals steigern, schon darum
uicht, weil seine Tonmasse immer zum bedeutenden Theil aus rohen und unrein
singenden Stimmen besteht.

Um das Jahr 1630 verbreitete sich allgemein die Einrichtung, dem Ge¬
meindegesang die Orgel zur Begleiterin zu geben. Auf dem Chor bürgerte sich
um dieselbe Zeit das Orchester mehr und mehr als unentbehrliche Stütze des
Voealchors ein und zwar in beiden Kirchen, wie denn ihre musikalische Ent¬
wicklung sich überhaupt eine Zeit lang in parallelen Bahnen bewegt.

Seit dem Anfange des 17. Jahrhunderts drang nämlich, von Italien aus¬
gehend, ein ganz neuer Stil auch in die gesammte Kirchenmusik ein, welcher
seinen Ausgangspunkt und sein Vorbild in der sich in Italien um diese Zeit
entwickelnden Oper fand. Die charakteristischen Kennzeichen dieses Stiles sind:
der monodische, d. h. der im Gegensatz zum Chorgesang auf Einzelstimmen be¬
rechnete Gesang, welcher sich um in Recitativen, Arien, Duetten u. s. w. in
mannigfacher Weise mit dem Chorgesange verband. Der Form nach hatte man
darin unverkennbar schon den Keim der späteren Cantate vor sich; dem Inhalte
nach hielten aber diese Gesänge noch streng an der kirchlichen Ueberlieferung


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[0461] der Chorgesang alsbald jener neuen herrlichen Blüthe des kirchlichen Lebens: der geistlichen Volkslieder. Diese Volkslieder wurden jedoch nicht, wie man es sich gewöhnlich zu denken Pflegt, dem Gemeindegesange überliefert; die evangelischen Tonmeister bearbeiteten sie vielmehr ausschließlich für den Vortrag des kunstmäßig geschulten Chors und der Mehrzahl nach wohl zum Gebrauche an Stelle der drei wech¬ selnden Meßtexte. Vorübergehend, aber auch nur vorübergehend, kam man gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf den Einfall, diesen Chorgesang geistlicher Lieder mit dem Gemeindegesange in Verbindung zu setzen. Sehr bald verließ man aber diesen Weg wieder, denn der scheinbar so glückliche Einfall war in Wirklichkeit ein höchst unglücklicher, was besonders deswegen betont zu werden verdient, weil auch in neuester Zeit Einige auf diesen Gedanken zurückgekommen sind und darin die Lösung der Frage nach der richtigen Verwendung des Kirchenchores zu finden glauben. Es liegt ja auf der Hand, daß bei einer solchen unorganischen Verbindung von Chor- und Gemeindegesang das von ersterem gesungene Kunstwerk durch die unproportionirte Tonmasse in der Ober¬ stimme und durch den schwerfälligen und unreinen Fluß des Gemeindegesanges verdeckt und zerstört werden muß, ohne daß doch der Gemeindegesang dadurch eine wesentliche Besserung erfährt. Wenn Goethe einmal als wesentliches Merk¬ mal der Dilettantenleistung die Jmperfectibilitüt bezeichnet, so gilt dies in vollem Maße auch für den kirchlichen Gemeindegesang, der ja dem künstlerisch geschulten Chor gegenüber eine Dilettantenleistnng ist. Er kann zwar besser oder schlechter sein, aber bis zu einer Kunstleistung läßt er sich niemals steigern, schon darum uicht, weil seine Tonmasse immer zum bedeutenden Theil aus rohen und unrein singenden Stimmen besteht. Um das Jahr 1630 verbreitete sich allgemein die Einrichtung, dem Ge¬ meindegesang die Orgel zur Begleiterin zu geben. Auf dem Chor bürgerte sich um dieselbe Zeit das Orchester mehr und mehr als unentbehrliche Stütze des Voealchors ein und zwar in beiden Kirchen, wie denn ihre musikalische Ent¬ wicklung sich überhaupt eine Zeit lang in parallelen Bahnen bewegt. Seit dem Anfange des 17. Jahrhunderts drang nämlich, von Italien aus¬ gehend, ein ganz neuer Stil auch in die gesammte Kirchenmusik ein, welcher seinen Ausgangspunkt und sein Vorbild in der sich in Italien um diese Zeit entwickelnden Oper fand. Die charakteristischen Kennzeichen dieses Stiles sind: der monodische, d. h. der im Gegensatz zum Chorgesang auf Einzelstimmen be¬ rechnete Gesang, welcher sich um in Recitativen, Arien, Duetten u. s. w. in mannigfacher Weise mit dem Chorgesange verband. Der Form nach hatte man darin unverkennbar schon den Keim der späteren Cantate vor sich; dem Inhalte nach hielten aber diese Gesänge noch streng an der kirchlichen Ueberlieferung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/461>, abgerufen am 23.07.2024.