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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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gemacht hat. Gussow selbst schickte im Jahre 1874 wiederum mehrere Genre¬
bilder auf die Berliner Ausstellung, von denen besonders eines, "Beim Kunst-
gelehrten", durch > sein Sattes, leuchtendes Colorit ein tieferes Interesse erregte.
Doch waren diese kleineren Arbeiten nur tastende Versuche, coloristische Experi¬
mente, die hie und da noch kleine Unsicherheiten und Unentschlossenheiten zeigten.
Der ganze Gnssow trat erst 1875 in einem Bilde von drei Figuren in ungefähr
halber Lebensgröße zu Tage: ein aus dem Felde heimgekehrter Reservist erzählt
seinem Mütterchen und seinem Schatz seine Erlebnisse. Der prächtige, frische Bursche
mit einer Dragonermütze auf dem Kopfe, in Sannnetjacke und hohen Stiefeln,
sitzt hinter dem Tische, dem Beschauer gerade zugekehrt, und erhebt gestieulirend
die Rechte, die Alte hört mit gefalteten Händen und mit thränenden Augen
andächtig zu, das Mädchen hat seine Hände auf den Schoß fallen lassen und
ist ganz Auge und Ohr für den schmücken Burschen, der wiederum nur für sie
zu erzählen scheint. In der Charakteristik der verschiedenartigen Stoffe, der
Geräthe, des Holzes, des Mauerwerks, in der sprechenden Lebendigkeit der Ge¬
sichtszüge war der höchste Schein der Naturwahrheit und des Lebens erreicht.
Gussow hatte uur noch einen Schritt zu thun, um das Programm des Natura¬
lismus ganz zu erfüllen, er hatte nur noch für seine Figuren den Maßstab der
naturgroße zu wählen, und das that er 1876, als sich der an die reoganisirte
Kunstakademie nach Berlin berufene Lehrer durch drei Gemälde vor dem Berliner
Publikum legitimirte, die einen wahren Sturm hervorriefen.

"Das Kätzchen," "Verlorenes Glück" und "Der Blumenfreund", so nannte
der Katalog der akademischen Ausstellung die drei Bilder, welche in kühner,
nicht mißzuverstehender Sprache die künstlerische Ueberzeugung, gleichsam das
Programm des Naturalisten verkündeten. Um ein Kätzchen waren vier Per¬
sonen gruppirt, ein alter Bauer, der das Thierchen in der Hand hielt, eine alte
Frau mit einem Korbe am Arme und zwei traite Bauerndirnen, die sich höch¬
lichst an den Capriolen des Kätzchens ergötzten. Sie lächelten nicht wie die
Dämchen A. von Rambergs, sondern sie lachten mit vollen Backen, aus denen
Frische und Gesundheit förmlich hervvrsprühten. Jede Falte, jedes Härchen,
jede Ader war getreu der Natur nachgebildet, die Glieder waren mit unge-
wöhnlicher plastischer Kraft modellirt, so daß sie gleichsam aus der Bildfläche
herauszuspringeu schienen, und die durchweg in kalten Tönen gehaltene Farbe
gleichwohl von einer bedeutenden Leuchtkraft. Harmonie und Einheit des Tons
fehlte ihr freilich. Aber wo ist eine solche überall in der Natur zu finde"?
Wird sie von den Malern nicht erst hineincomponirt? Und gerade das Com-
poniren steht ganz außerhalb des Naturalismus. Ein "eomponirtes" Bild
würde die Hauptsache, den Schein des Lebens, einbüßen, und deshalb beschrän¬
ken sich die Naturalisten meist auf eine geringe Anzahl von Figuren, weil als-


gemacht hat. Gussow selbst schickte im Jahre 1874 wiederum mehrere Genre¬
bilder auf die Berliner Ausstellung, von denen besonders eines, „Beim Kunst-
gelehrten", durch > sein Sattes, leuchtendes Colorit ein tieferes Interesse erregte.
Doch waren diese kleineren Arbeiten nur tastende Versuche, coloristische Experi¬
mente, die hie und da noch kleine Unsicherheiten und Unentschlossenheiten zeigten.
Der ganze Gnssow trat erst 1875 in einem Bilde von drei Figuren in ungefähr
halber Lebensgröße zu Tage: ein aus dem Felde heimgekehrter Reservist erzählt
seinem Mütterchen und seinem Schatz seine Erlebnisse. Der prächtige, frische Bursche
mit einer Dragonermütze auf dem Kopfe, in Sannnetjacke und hohen Stiefeln,
sitzt hinter dem Tische, dem Beschauer gerade zugekehrt, und erhebt gestieulirend
die Rechte, die Alte hört mit gefalteten Händen und mit thränenden Augen
andächtig zu, das Mädchen hat seine Hände auf den Schoß fallen lassen und
ist ganz Auge und Ohr für den schmücken Burschen, der wiederum nur für sie
zu erzählen scheint. In der Charakteristik der verschiedenartigen Stoffe, der
Geräthe, des Holzes, des Mauerwerks, in der sprechenden Lebendigkeit der Ge¬
sichtszüge war der höchste Schein der Naturwahrheit und des Lebens erreicht.
Gussow hatte uur noch einen Schritt zu thun, um das Programm des Natura¬
lismus ganz zu erfüllen, er hatte nur noch für seine Figuren den Maßstab der
naturgroße zu wählen, und das that er 1876, als sich der an die reoganisirte
Kunstakademie nach Berlin berufene Lehrer durch drei Gemälde vor dem Berliner
Publikum legitimirte, die einen wahren Sturm hervorriefen.

„Das Kätzchen," „Verlorenes Glück" und „Der Blumenfreund", so nannte
der Katalog der akademischen Ausstellung die drei Bilder, welche in kühner,
nicht mißzuverstehender Sprache die künstlerische Ueberzeugung, gleichsam das
Programm des Naturalisten verkündeten. Um ein Kätzchen waren vier Per¬
sonen gruppirt, ein alter Bauer, der das Thierchen in der Hand hielt, eine alte
Frau mit einem Korbe am Arme und zwei traite Bauerndirnen, die sich höch¬
lichst an den Capriolen des Kätzchens ergötzten. Sie lächelten nicht wie die
Dämchen A. von Rambergs, sondern sie lachten mit vollen Backen, aus denen
Frische und Gesundheit förmlich hervvrsprühten. Jede Falte, jedes Härchen,
jede Ader war getreu der Natur nachgebildet, die Glieder waren mit unge-
wöhnlicher plastischer Kraft modellirt, so daß sie gleichsam aus der Bildfläche
herauszuspringeu schienen, und die durchweg in kalten Tönen gehaltene Farbe
gleichwohl von einer bedeutenden Leuchtkraft. Harmonie und Einheit des Tons
fehlte ihr freilich. Aber wo ist eine solche überall in der Natur zu finde»?
Wird sie von den Malern nicht erst hineincomponirt? Und gerade das Com-
poniren steht ganz außerhalb des Naturalismus. Ein „eomponirtes" Bild
würde die Hauptsache, den Schein des Lebens, einbüßen, und deshalb beschrän¬
ken sich die Naturalisten meist auf eine geringe Anzahl von Figuren, weil als-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/40>, abgerufen am 23.07.2024.