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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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die Erde trifft! O Klugheit deutscher Zeitungspolitik! Wird sich die Parla¬
mentspolitik zu gleicher Höhe aufschwingen? Noch wollen wir es nicht hoffen.

Die Präsidentenwahl hat den Fractionen wiederum die Gelegenheit zu der
bekannten Parade in Kinderschuhen gegeben. Die nationalliberale Fraction be¬
anspruchte den Präsidenteuposten laut Erklärung ihrer officiellen Korrespondenz.
Aber wie darf eine Fraction einen Posten beanspruchen, dessen Anspruch ganz
allein auf den Eigenschaften einer Person ruhen kann? Es ist die alte Ge¬
schichte der studentischen Corpssitten, die in den parlamentarischen Fractionen
vergnüglich fortgesetzt werden, als ob ein Parlament nicht da wäre, um ver¬
nünftige und ernsthafte Dinge zu thun. Nun also: das eine Corps beanspruchte
den Präsidentenstuhl, den ihm zwei andere Corps nicht gönnen wollten. Aber
diese anderen hatten keinen Mann zu stellen, der sich auch nur einige Stunden
mit Geschick in dem Vorsitz behaupten kann. Also wandten sie sich an ein
viertes Corps und sagten: stelle du den passenden Mann, damit wir drei, wir
I, II, IV, die unangenehme III ausschließen. Und siehe da, das Corps IV
geht aus Corpseitelkeit auf den Vorschlag ein. Aber wenn IV sich mit III
vereinigt hätte, wenn anch zunächst nur, um in der Minorität zu bleiben, so
hätten I und II sich bald in Zwiespalt und Ohnmacht befunden. Denn Fraction
II, das Centrum nämlich, ist wiederum auf dem Wege einer Opposition gegen
die Regierung, auf welchem Fraction I, die Altconservativen, nicht folgen kann,
ohne ihren Wahlspruch: "Mit Gott für König und Vaterland!" mit Füßen zu
treten. Daher hätte eine von politischen Köpfen geleitete Fraction nimmermehr
sich dieser conservativ-klerikalen Majorität anschließen dürfen, deren Tage ge¬
zählt find. Der vornehme Herr, der sich von dieser Majorität hat auf den
Präsidentensitz complimentiren lassen, wird bald inne werden, daß er die Majo¬
rität, die ihn berufen, nicht repräsentirt, und daß feine Sitte und geschäftliche
Umsicht, die ihn auszeichnen, ohnmächtig sind gegen die rohen Angriffe cynischer
Gladiatoren.

Aber auch die nationalliberale Fraction hat ihren Beweis politischer Unklug-
heit gegeben, indem sie einen Candidaten, der ihr als Person genehm sein mußte,
verschmähte zum Präsidenten des Hauses und nicht bloß der Majorität zu
machen. Der Vertrauensmann des Hauses steht anders da gegen die ge¬
flissentlicher Störer, als der Vertrauensmann der Majorität, wenn die Störer
die Sieger seiner Wahl find. Und hätten die Nationalliberalen den Frei-
conservativen gegenüber eine Corpsempsindlichkeit unterdrückt, so hätten sie den
Kern einer Majorität geschaffen, in der sie das leitende Element geworden
wären, und der sich bald ein Theil der jetzt unter der altconservativen Fahne
Einhergehenden hätte anschließen müssen. Nun ist wieder einmal das Chaos,


die Erde trifft! O Klugheit deutscher Zeitungspolitik! Wird sich die Parla¬
mentspolitik zu gleicher Höhe aufschwingen? Noch wollen wir es nicht hoffen.

Die Präsidentenwahl hat den Fractionen wiederum die Gelegenheit zu der
bekannten Parade in Kinderschuhen gegeben. Die nationalliberale Fraction be¬
anspruchte den Präsidenteuposten laut Erklärung ihrer officiellen Korrespondenz.
Aber wie darf eine Fraction einen Posten beanspruchen, dessen Anspruch ganz
allein auf den Eigenschaften einer Person ruhen kann? Es ist die alte Ge¬
schichte der studentischen Corpssitten, die in den parlamentarischen Fractionen
vergnüglich fortgesetzt werden, als ob ein Parlament nicht da wäre, um ver¬
nünftige und ernsthafte Dinge zu thun. Nun also: das eine Corps beanspruchte
den Präsidentenstuhl, den ihm zwei andere Corps nicht gönnen wollten. Aber
diese anderen hatten keinen Mann zu stellen, der sich auch nur einige Stunden
mit Geschick in dem Vorsitz behaupten kann. Also wandten sie sich an ein
viertes Corps und sagten: stelle du den passenden Mann, damit wir drei, wir
I, II, IV, die unangenehme III ausschließen. Und siehe da, das Corps IV
geht aus Corpseitelkeit auf den Vorschlag ein. Aber wenn IV sich mit III
vereinigt hätte, wenn anch zunächst nur, um in der Minorität zu bleiben, so
hätten I und II sich bald in Zwiespalt und Ohnmacht befunden. Denn Fraction
II, das Centrum nämlich, ist wiederum auf dem Wege einer Opposition gegen
die Regierung, auf welchem Fraction I, die Altconservativen, nicht folgen kann,
ohne ihren Wahlspruch: „Mit Gott für König und Vaterland!" mit Füßen zu
treten. Daher hätte eine von politischen Köpfen geleitete Fraction nimmermehr
sich dieser conservativ-klerikalen Majorität anschließen dürfen, deren Tage ge¬
zählt find. Der vornehme Herr, der sich von dieser Majorität hat auf den
Präsidentensitz complimentiren lassen, wird bald inne werden, daß er die Majo¬
rität, die ihn berufen, nicht repräsentirt, und daß feine Sitte und geschäftliche
Umsicht, die ihn auszeichnen, ohnmächtig sind gegen die rohen Angriffe cynischer
Gladiatoren.

Aber auch die nationalliberale Fraction hat ihren Beweis politischer Unklug-
heit gegeben, indem sie einen Candidaten, der ihr als Person genehm sein mußte,
verschmähte zum Präsidenten des Hauses und nicht bloß der Majorität zu
machen. Der Vertrauensmann des Hauses steht anders da gegen die ge¬
flissentlicher Störer, als der Vertrauensmann der Majorität, wenn die Störer
die Sieger seiner Wahl find. Und hätten die Nationalliberalen den Frei-
conservativen gegenüber eine Corpsempsindlichkeit unterdrückt, so hätten sie den
Kern einer Majorität geschaffen, in der sie das leitende Element geworden
wären, und der sich bald ein Theil der jetzt unter der altconservativen Fahne
Einhergehenden hätte anschließen müssen. Nun ist wieder einmal das Chaos,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/357>, abgerufen am 23.07.2024.