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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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zosen Schmelz und Leopold Robert weitergebildet hatte. Ohne die Belgier zu
kennen, steuerte er mit seinen coloristischen Tendenzen so ziemlich auf dasselbe
Ziel hinaus. Vornehmlich waren es aber die Effecte des Sonnenlichts, die er
in poetischer Art auf seinen eleganten Genrebildern verwerthete. Wie Robert
griff er in das farbige Getümmel des italienischen Volkslebens hinein und stellte
mit Vorliebe anmuthige Frauen und Mädchen unter frappanter Sonnenbeleuch¬
tung dar. Eine Gruppe badender Mädchen, von der die Berliner National¬
galerie eine Wiederholung besitzt, gefiel besonders, und solch ein Bild mit
badenden Mädchen, welches sich gegenwärtig zu Leipzig im Privatbesitz befindet,
war auch die Erstlingsarbeit, die Piloty ausstellte. Doch hielt ein so freund¬
liches Motiv seinen ernstgestimmten, zur Schwermuth geneigten Geist nicht
lange gefesselt. Ein ergreifendes Familienereigniß berührte in seiner Seele ver¬
wandte Saiten. Der Tod drohte, seine geliebte Schwester, kurz nachdem sie dem
Gatten ein Kind geschenkt, aus dem traulichen Familienkreise zu entführen, und
die Tage der Angst und Qual machten einen so tiefen Eindruck auf das Ge¬
müth des Künstlers, daß er nach der Genesung der Theuren nicht einen Moment
der Freude, sondern einen Augenblick trostloser Verzweiflung zum Bilde aus¬
gestattete. "Die sterbende Wöchnerin", welche bei vollem Bewußtsein in Gegen¬
wart des schmerzgebengten Gatten von dein neugeborenen Kinde Abschied nimmt,
wurde im Jahre 1849 vollendet und ging ebensalls in Privatbesitz nach Leipzig
über, wohin sich der Künstler selbst noch in demselben Jahre begab. Er hatte
sich dort einiger Portraitaufträge zu entledigen und nahm zugleich die Gelegen¬
heit wahr, seine Kenntnisse durch das Studium der Dresdner Galerie zu er¬
weitern.

Mit der "sterbenden Wöchnerin" hatte er einen tragischen Accord ange¬
schlagen, der seinem Herzen wohl that. Aber dieses Bild berührte am Ende
nur eine Saite des menschlichen Empfindens. Die bloße Wehmuth ist kein
Gefühl von nachhaltiger Wirkung, und so mischte er die Farben stärker und
spitzte die Contraste schärfer zu, als er zum zweiten Male vor die Öffentlichkeit
trat. "Die Amme" wurde bei ihrer ersten Ausstellung in München (1853)
unter die Kategorie der Tendenzbilder gezählt, und wenn auch der Künstler
nach seiner eigenen Erklärung keine tendenziöse Absicht gehabt hat, so liegt doch in
der Wahl seines Stoffes das unverkennbare Bestreben, auf einen socialen Mi߬
stand aufmerksam zu machen, vielleicht auch nur eine Anklage gegen die Unge¬
rechtigkeit des Schicksals zu richten. Ein Bauernmädchen, welches in der Stadt
als Amme dient, ist mit seinem reichgekleideten und wohlgenährten Pflegling in
die ärmliche Wohnung einer alten Fran gekommen, die sich seines eigenen Kindes
angenommen hat. Mit zärtlichem Blick hängt die junge Mutter an dem abge¬
zehrten Antlitz ihres Kindes, das ohne sorgsame Pflege und ausreichende Nahrung


zosen Schmelz und Leopold Robert weitergebildet hatte. Ohne die Belgier zu
kennen, steuerte er mit seinen coloristischen Tendenzen so ziemlich auf dasselbe
Ziel hinaus. Vornehmlich waren es aber die Effecte des Sonnenlichts, die er
in poetischer Art auf seinen eleganten Genrebildern verwerthete. Wie Robert
griff er in das farbige Getümmel des italienischen Volkslebens hinein und stellte
mit Vorliebe anmuthige Frauen und Mädchen unter frappanter Sonnenbeleuch¬
tung dar. Eine Gruppe badender Mädchen, von der die Berliner National¬
galerie eine Wiederholung besitzt, gefiel besonders, und solch ein Bild mit
badenden Mädchen, welches sich gegenwärtig zu Leipzig im Privatbesitz befindet,
war auch die Erstlingsarbeit, die Piloty ausstellte. Doch hielt ein so freund¬
liches Motiv seinen ernstgestimmten, zur Schwermuth geneigten Geist nicht
lange gefesselt. Ein ergreifendes Familienereigniß berührte in seiner Seele ver¬
wandte Saiten. Der Tod drohte, seine geliebte Schwester, kurz nachdem sie dem
Gatten ein Kind geschenkt, aus dem traulichen Familienkreise zu entführen, und
die Tage der Angst und Qual machten einen so tiefen Eindruck auf das Ge¬
müth des Künstlers, daß er nach der Genesung der Theuren nicht einen Moment
der Freude, sondern einen Augenblick trostloser Verzweiflung zum Bilde aus¬
gestattete. „Die sterbende Wöchnerin", welche bei vollem Bewußtsein in Gegen¬
wart des schmerzgebengten Gatten von dein neugeborenen Kinde Abschied nimmt,
wurde im Jahre 1849 vollendet und ging ebensalls in Privatbesitz nach Leipzig
über, wohin sich der Künstler selbst noch in demselben Jahre begab. Er hatte
sich dort einiger Portraitaufträge zu entledigen und nahm zugleich die Gelegen¬
heit wahr, seine Kenntnisse durch das Studium der Dresdner Galerie zu er¬
weitern.

Mit der „sterbenden Wöchnerin" hatte er einen tragischen Accord ange¬
schlagen, der seinem Herzen wohl that. Aber dieses Bild berührte am Ende
nur eine Saite des menschlichen Empfindens. Die bloße Wehmuth ist kein
Gefühl von nachhaltiger Wirkung, und so mischte er die Farben stärker und
spitzte die Contraste schärfer zu, als er zum zweiten Male vor die Öffentlichkeit
trat. „Die Amme" wurde bei ihrer ersten Ausstellung in München (1853)
unter die Kategorie der Tendenzbilder gezählt, und wenn auch der Künstler
nach seiner eigenen Erklärung keine tendenziöse Absicht gehabt hat, so liegt doch in
der Wahl seines Stoffes das unverkennbare Bestreben, auf einen socialen Mi߬
stand aufmerksam zu machen, vielleicht auch nur eine Anklage gegen die Unge¬
rechtigkeit des Schicksals zu richten. Ein Bauernmädchen, welches in der Stadt
als Amme dient, ist mit seinem reichgekleideten und wohlgenährten Pflegling in
die ärmliche Wohnung einer alten Fran gekommen, die sich seines eigenen Kindes
angenommen hat. Mit zärtlichem Blick hängt die junge Mutter an dem abge¬
zehrten Antlitz ihres Kindes, das ohne sorgsame Pflege und ausreichende Nahrung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/344>, abgerufen am 23.07.2024.