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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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träglich mit den: mosaischen Glauben, und man trifft uuter dieser Viertelmillion
Meuschen nicht einen einzigen Kaufmann." -- Wirklich? Nicht einen einzigen? Da
steht's schwarz auf weiß. Aber Stern wird uns gestatten, daß wir Bestätigung
des Wunders durch nicht-jüdische Beobachter abwarten.

Barbarisch ist eine Sitte der Falascha, die mit ihren übertriebenen Begriffen
von Reinheit zusammenhängt. Neben jedem ihrer Dörfer befindet sich eine "unreine
Hütte", in die man die Kranken schafft, deren Tod für unabwendbar gilt. Sie
liegen dann einsam und verlassen; denn kein Verwandter darf ihnen nahen, nur
solche, die selbst für unrein gelten, dürfen ihnen Gesellschaft und Beistand leisten.
Wir bemerken schließlich, daß Stern in Gauda, dem Mittelpunkte des Falaschalandes,
eine Missionsstation gründete und, als er schrieb, sich natürlich -- alle Missionäre
thun dies -- großen Hoffnungen ans den Erfolg seiner Bekehrungspredigten über¬
ließ. Ob dieselben sich erfüllt haben, wissen wir nicht.

Blicken wir, bevor wir uns der europäischen Judenschaft zuwenden, auf
deren Stammgenossen in Asien und Afrika als Ganzes zurück, so finden wir, daß
dieselben nur an wenigen Orten in größerer Zahl Arbeiter sind, daß die Majorität
vielmehr vom Handel lebt, und daß sie -- sicher nicht bloß wegen ihrer Religion,
die ja dem Islam näher verwandt ist als das Christenthum -- uoch heute in
den Augen ihrer muhamedanischen Nachbarn als das dastehen, was sie in den
Augen der Römer zur Zeit des Tacitus waren, als das oäium, AgQsris IminMi.*)

Wir sahen, daß die ungeheure Majorität der jüdischen Diaspora im Laufe der
Zeiten nach Europa ausgewandert ist. Wollte man sich ihre Verbreitung über
diese" Theil der alten Welt graphisch verdeutlichen, etwa durch Schattirungen von
Roth auf einer Karte, wo die stärkste Dichtheit durch den tiefsten Ton der Färbung
des betreffenden Landstrichs angegeben wäre, so würde dieser dem ehemaligen Polen
und zwar den südöstlichen Gegenden desselben, daneben aber den Gebieten links
von der untern Donau zukommen. Erheblich blasser würden Oesterreich-Ungarn
(ohne Galizien), Deutschland (ohne Posen und Berlin), Dänemark und Holland
erscheinen, wieder etwas schwächer gefärbt die Nordhälfte Rußlands, das Binnen¬
land Rumeliens, Serbiens und Bulgariens, dann Griechenland, Italien, Frankreich,
die Schweiz, Belgien und England, noch matter das nördliche Skandinavien, endlich
fast farblos Spanien und Portugal. Im russischen Reiche mit Einschluß Polens,
Lithauens und Knrlands, Sibiriens und Kaukcisiens wohnten nach den letzten stati¬
stischen Ermittelungen rund 2 650 000 Juden, davon wenigstens 2 000 000 in den
westlichen Provinzen, also in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Im eigentlichen
Rußland, Moskovien, werden sie nicht geduldet. In Rumänien beträgt ihre Zahl
jetzt über 250 000, in Oesterreich-Ungarn 1400 000, in Holland 70000, in der
europäischen Türkei ungefähr ebenso viel, in Serbien 1500, in Griechenland seit



*) Derselbe wirft ihnen vor, deshalb so verhaßt zu sein, weil sie sich starr absonderten
und alle bisherige Humanität und Sittlichkeit umkehrten. "Sie hassen/' meint er, "die
Menschheit und alles Menschliche."

träglich mit den: mosaischen Glauben, und man trifft uuter dieser Viertelmillion
Meuschen nicht einen einzigen Kaufmann." — Wirklich? Nicht einen einzigen? Da
steht's schwarz auf weiß. Aber Stern wird uns gestatten, daß wir Bestätigung
des Wunders durch nicht-jüdische Beobachter abwarten.

Barbarisch ist eine Sitte der Falascha, die mit ihren übertriebenen Begriffen
von Reinheit zusammenhängt. Neben jedem ihrer Dörfer befindet sich eine „unreine
Hütte", in die man die Kranken schafft, deren Tod für unabwendbar gilt. Sie
liegen dann einsam und verlassen; denn kein Verwandter darf ihnen nahen, nur
solche, die selbst für unrein gelten, dürfen ihnen Gesellschaft und Beistand leisten.
Wir bemerken schließlich, daß Stern in Gauda, dem Mittelpunkte des Falaschalandes,
eine Missionsstation gründete und, als er schrieb, sich natürlich — alle Missionäre
thun dies — großen Hoffnungen ans den Erfolg seiner Bekehrungspredigten über¬
ließ. Ob dieselben sich erfüllt haben, wissen wir nicht.

Blicken wir, bevor wir uns der europäischen Judenschaft zuwenden, auf
deren Stammgenossen in Asien und Afrika als Ganzes zurück, so finden wir, daß
dieselben nur an wenigen Orten in größerer Zahl Arbeiter sind, daß die Majorität
vielmehr vom Handel lebt, und daß sie — sicher nicht bloß wegen ihrer Religion,
die ja dem Islam näher verwandt ist als das Christenthum — uoch heute in
den Augen ihrer muhamedanischen Nachbarn als das dastehen, was sie in den
Augen der Römer zur Zeit des Tacitus waren, als das oäium, AgQsris IminMi.*)

Wir sahen, daß die ungeheure Majorität der jüdischen Diaspora im Laufe der
Zeiten nach Europa ausgewandert ist. Wollte man sich ihre Verbreitung über
diese» Theil der alten Welt graphisch verdeutlichen, etwa durch Schattirungen von
Roth auf einer Karte, wo die stärkste Dichtheit durch den tiefsten Ton der Färbung
des betreffenden Landstrichs angegeben wäre, so würde dieser dem ehemaligen Polen
und zwar den südöstlichen Gegenden desselben, daneben aber den Gebieten links
von der untern Donau zukommen. Erheblich blasser würden Oesterreich-Ungarn
(ohne Galizien), Deutschland (ohne Posen und Berlin), Dänemark und Holland
erscheinen, wieder etwas schwächer gefärbt die Nordhälfte Rußlands, das Binnen¬
land Rumeliens, Serbiens und Bulgariens, dann Griechenland, Italien, Frankreich,
die Schweiz, Belgien und England, noch matter das nördliche Skandinavien, endlich
fast farblos Spanien und Portugal. Im russischen Reiche mit Einschluß Polens,
Lithauens und Knrlands, Sibiriens und Kaukcisiens wohnten nach den letzten stati¬
stischen Ermittelungen rund 2 650 000 Juden, davon wenigstens 2 000 000 in den
westlichen Provinzen, also in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Im eigentlichen
Rußland, Moskovien, werden sie nicht geduldet. In Rumänien beträgt ihre Zahl
jetzt über 250 000, in Oesterreich-Ungarn 1400 000, in Holland 70000, in der
europäischen Türkei ungefähr ebenso viel, in Serbien 1500, in Griechenland seit



*) Derselbe wirft ihnen vor, deshalb so verhaßt zu sein, weil sie sich starr absonderten
und alle bisherige Humanität und Sittlichkeit umkehrten. „Sie hassen/' meint er, „die
Menschheit und alles Menschliche."
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[0325] träglich mit den: mosaischen Glauben, und man trifft uuter dieser Viertelmillion Meuschen nicht einen einzigen Kaufmann." — Wirklich? Nicht einen einzigen? Da steht's schwarz auf weiß. Aber Stern wird uns gestatten, daß wir Bestätigung des Wunders durch nicht-jüdische Beobachter abwarten. Barbarisch ist eine Sitte der Falascha, die mit ihren übertriebenen Begriffen von Reinheit zusammenhängt. Neben jedem ihrer Dörfer befindet sich eine „unreine Hütte", in die man die Kranken schafft, deren Tod für unabwendbar gilt. Sie liegen dann einsam und verlassen; denn kein Verwandter darf ihnen nahen, nur solche, die selbst für unrein gelten, dürfen ihnen Gesellschaft und Beistand leisten. Wir bemerken schließlich, daß Stern in Gauda, dem Mittelpunkte des Falaschalandes, eine Missionsstation gründete und, als er schrieb, sich natürlich — alle Missionäre thun dies — großen Hoffnungen ans den Erfolg seiner Bekehrungspredigten über¬ ließ. Ob dieselben sich erfüllt haben, wissen wir nicht. Blicken wir, bevor wir uns der europäischen Judenschaft zuwenden, auf deren Stammgenossen in Asien und Afrika als Ganzes zurück, so finden wir, daß dieselben nur an wenigen Orten in größerer Zahl Arbeiter sind, daß die Majorität vielmehr vom Handel lebt, und daß sie — sicher nicht bloß wegen ihrer Religion, die ja dem Islam näher verwandt ist als das Christenthum — uoch heute in den Augen ihrer muhamedanischen Nachbarn als das dastehen, was sie in den Augen der Römer zur Zeit des Tacitus waren, als das oäium, AgQsris IminMi.*) Wir sahen, daß die ungeheure Majorität der jüdischen Diaspora im Laufe der Zeiten nach Europa ausgewandert ist. Wollte man sich ihre Verbreitung über diese» Theil der alten Welt graphisch verdeutlichen, etwa durch Schattirungen von Roth auf einer Karte, wo die stärkste Dichtheit durch den tiefsten Ton der Färbung des betreffenden Landstrichs angegeben wäre, so würde dieser dem ehemaligen Polen und zwar den südöstlichen Gegenden desselben, daneben aber den Gebieten links von der untern Donau zukommen. Erheblich blasser würden Oesterreich-Ungarn (ohne Galizien), Deutschland (ohne Posen und Berlin), Dänemark und Holland erscheinen, wieder etwas schwächer gefärbt die Nordhälfte Rußlands, das Binnen¬ land Rumeliens, Serbiens und Bulgariens, dann Griechenland, Italien, Frankreich, die Schweiz, Belgien und England, noch matter das nördliche Skandinavien, endlich fast farblos Spanien und Portugal. Im russischen Reiche mit Einschluß Polens, Lithauens und Knrlands, Sibiriens und Kaukcisiens wohnten nach den letzten stati¬ stischen Ermittelungen rund 2 650 000 Juden, davon wenigstens 2 000 000 in den westlichen Provinzen, also in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Im eigentlichen Rußland, Moskovien, werden sie nicht geduldet. In Rumänien beträgt ihre Zahl jetzt über 250 000, in Oesterreich-Ungarn 1400 000, in Holland 70000, in der europäischen Türkei ungefähr ebenso viel, in Serbien 1500, in Griechenland seit *) Derselbe wirft ihnen vor, deshalb so verhaßt zu sein, weil sie sich starr absonderten und alle bisherige Humanität und Sittlichkeit umkehrten. „Sie hassen/' meint er, „die Menschheit und alles Menschliche."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/325>, abgerufen am 01.07.2024.