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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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jedoch der richtigere Namen. Bei dem echten Künstler, dem wahrhaft großen,
entstehen die Gestalten anders. Ein Hauptmotiv ist es, welches den Keimpunkt
bildet, aus welchem mit Nothwendigkeit die Gestalt erwächst. Gleich dem be¬
lebenden Safte durchrinnt es alle Glieder und macht sie zum Dienste des Haupt¬
motivs lebendig, so daß dieses aus jeder Bewegung, aus jeder Linie zurück¬
strahlt, und indem es überall durchklingt, als das gestaltende Princip, als der
eigentliche Gegenstand der Darstellung zur Empfindung kommt. Jene Neben¬
rücksichten wird der große Künstler beim Hervorwachsenlassen der Gestalt be¬
achten, sie mit in seinen Zweck hereinziehen, sie sich dienstbar machen, so daß sie
ausdrucksvolle Träger des Grundmotivs werden und dies laut nach allen Seiten
hin verkündigen. Etwas Zufälliges giebt es da nicht mehr: Alles ist aus einem
Guß, Alles ist geworden, gewachsen, es kann nur so und nicht anders sein.
Für diese Wirkung bleibt es sich ganz gleich, ob der Künstler sich dabei immer
der Gründe begrifflich bewußt worden ist, oder ob es, wie es wohl am richtig¬
sten ist, nur die Wirkung seiner so glücklich organisirten Natur ist, die, wenn
die Neuschöpfung aus ihm hinauszuwachsen anfängt, nicht duldet, daß dies nach
anderen Gesetzen geschieht als den in ihm lebendig wirkenden und zur Thätig¬
keit gekommenen, die in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkung einer Naturkraft
gleichen.

Tritt man nun an die Beurtheilung eines einzelnen Werkes heran, so ist
die erste Frage: Ist sein Schöpfer als ein solcher, wahrhaft großer Künstler
zu betrachten, oder macht er den Eindruck, daß er auch "künstlerische" Neben¬
rücksichten gelten lassen kann, welche mit dem Hauptmotiv, das er sich als das
belebende Element gewählt hat, nichts Wesentliches zu thun haben? Gilt das
Letztere, so wird eine wissenschaftliche Durchdringung des Werkes kaum möglich
sein, da sich keine Grenze wird angeben lassen, wo die Willkür des Künstlers
anfängt, wo die innere Nothwendigkeit seiner Schöpfung endet. Ganz anders
wird es bei dem wahrhaft großen Künstler sein; sein Werk ist von der inneren
Nothwendigkeit durchwoben, und jedes noch so tiefe Eindringen wird nur ein
schärferes Erkennen der Folgerichtigkeit im Zusammenhang aller Theile, in ihrer
Zusammenschließung zum Ganzen und zu dessen Gescuumtwirkuug sein. Dies
zu thun ist Aufgabe der ästhetischen Betrachtung.

Unterwerfen wir einer solchen die melische Statue und suchen zunächst jene
Frage zu beantworten, so dünkt uns, die über Alles erhabene Trefflichkeit des
Werkes läßt nur eine Antwort zu. Wer sie nicht für das Werk eines wahr¬
haft großen Künstlers hält, wer bei der Beurtheilung solchen Nebenrücksichten
glaubt Platz gönnen zu dürfen, für den werden die folgenden Betrachtungen
nicht stichhaltig sein; sie gehen von der Ueberzeugung aus, daß hier der Beur¬
theilung ein Werk unterliegt, das im höchsten Sinne des Wortes ein Kunstwerk


jedoch der richtigere Namen. Bei dem echten Künstler, dem wahrhaft großen,
entstehen die Gestalten anders. Ein Hauptmotiv ist es, welches den Keimpunkt
bildet, aus welchem mit Nothwendigkeit die Gestalt erwächst. Gleich dem be¬
lebenden Safte durchrinnt es alle Glieder und macht sie zum Dienste des Haupt¬
motivs lebendig, so daß dieses aus jeder Bewegung, aus jeder Linie zurück¬
strahlt, und indem es überall durchklingt, als das gestaltende Princip, als der
eigentliche Gegenstand der Darstellung zur Empfindung kommt. Jene Neben¬
rücksichten wird der große Künstler beim Hervorwachsenlassen der Gestalt be¬
achten, sie mit in seinen Zweck hereinziehen, sie sich dienstbar machen, so daß sie
ausdrucksvolle Träger des Grundmotivs werden und dies laut nach allen Seiten
hin verkündigen. Etwas Zufälliges giebt es da nicht mehr: Alles ist aus einem
Guß, Alles ist geworden, gewachsen, es kann nur so und nicht anders sein.
Für diese Wirkung bleibt es sich ganz gleich, ob der Künstler sich dabei immer
der Gründe begrifflich bewußt worden ist, oder ob es, wie es wohl am richtig¬
sten ist, nur die Wirkung seiner so glücklich organisirten Natur ist, die, wenn
die Neuschöpfung aus ihm hinauszuwachsen anfängt, nicht duldet, daß dies nach
anderen Gesetzen geschieht als den in ihm lebendig wirkenden und zur Thätig¬
keit gekommenen, die in der Unmittelbarkeit ihrer Wirkung einer Naturkraft
gleichen.

Tritt man nun an die Beurtheilung eines einzelnen Werkes heran, so ist
die erste Frage: Ist sein Schöpfer als ein solcher, wahrhaft großer Künstler
zu betrachten, oder macht er den Eindruck, daß er auch „künstlerische" Neben¬
rücksichten gelten lassen kann, welche mit dem Hauptmotiv, das er sich als das
belebende Element gewählt hat, nichts Wesentliches zu thun haben? Gilt das
Letztere, so wird eine wissenschaftliche Durchdringung des Werkes kaum möglich
sein, da sich keine Grenze wird angeben lassen, wo die Willkür des Künstlers
anfängt, wo die innere Nothwendigkeit seiner Schöpfung endet. Ganz anders
wird es bei dem wahrhaft großen Künstler sein; sein Werk ist von der inneren
Nothwendigkeit durchwoben, und jedes noch so tiefe Eindringen wird nur ein
schärferes Erkennen der Folgerichtigkeit im Zusammenhang aller Theile, in ihrer
Zusammenschließung zum Ganzen und zu dessen Gescuumtwirkuug sein. Dies
zu thun ist Aufgabe der ästhetischen Betrachtung.

Unterwerfen wir einer solchen die melische Statue und suchen zunächst jene
Frage zu beantworten, so dünkt uns, die über Alles erhabene Trefflichkeit des
Werkes läßt nur eine Antwort zu. Wer sie nicht für das Werk eines wahr¬
haft großen Künstlers hält, wer bei der Beurtheilung solchen Nebenrücksichten
glaubt Platz gönnen zu dürfen, für den werden die folgenden Betrachtungen
nicht stichhaltig sein; sie gehen von der Ueberzeugung aus, daß hier der Beur¬
theilung ein Werk unterliegt, das im höchsten Sinne des Wortes ein Kunstwerk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/30>, abgerufen am 23.07.2024.