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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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halten. Noch einmal wurde in Milo Halt gemacht, dann ging's dem Ziele
entgegen, wo sie denn endlich, nach einer mehr als halbjährigen Kreuz - und
Querfahrt, ohne weiteren Unfall ankam. 1821 wurde sie im Louvre aufgestellt
und wäre sicher nicht mehr aus ihrer Ruhe aufgeschreckt wordeu, wenn nicht
1870 die "Horden von Kantianern und Hegelianern" sich unterstanden hätten,
das arme unschuldige Frankreich zu überfalle". Da wurde sie, in eine Kiste
gelegt, in den Keller der Präfectur geflüchtet und überstand dort unversehrt die
Belagerung vou Paris und den Brand des Präfeeturgebäudes. Seit dem Juni
1871 steht sie wieder im Louvre, auss neue ein Zielpunkt andachtsvoller
Wallfahrt, ein Gegenstand ebenso einmüthiger Bewunderung wie vielfältiger
Erklärung.

Denn in der That genügt es dem grübelnden Forschergeiste nicht, in helle
Bewunderung aufzuflammen; er möchte sich der Berechtigung dazu bewußt
werden, er mochte sich Rechenschaft über den Grund der Empfindung geben,
un?, wenn er zu einer tieferen Erkenntniß durchgedrungen, darin einen neuen
Anlaß für seiue Bewunderung zu finden. Gelingt es, die Absichten des Künstlers
ganz zu erkennen, sie in jeder Linie, jeden? Zuge nachklinge?? zu flehte??, ihn auf
dein Wege der Entstehung bis zum kleinsten Motiv in der Ausführung zu be¬
gleite??, der Schöpfung nachzugehen, wie sie von einem mächtigen Willen wach¬
gerufen sich verkörpert und die Gestalt bis ins Feinste mit Alles beherrschenden
Geiste durchdringt, so daß wir nicht nur fühlen, sondern erkennen: so mußte
es werden und wachsen, wie ein Naturwerk unter eben solche?? Bedingungen
hätte wachsen müssen, so erweitert sich nicht nur die Kenntniß des Kunstwerkes
selbst, so daß sie eigentlich erst eine vollständige wird, es ist vielmehr auch der
einzige Weg, den? große?? unbekannten Menschen, der solches geschaffen, näher
zu kommen und ihn genauer kennen zu lerne??, als wir es durch Ueberlieferung
von Namen und Schule hätten erreiche?? können. Dieser Mensch aber muß el??
großer Künstler gewesen sei??, und wollen wir sein Werk beurtheilen, so dürfe??
wir für seine Entstehung nur solche Beweggründe gelte?? lassen, die eines großen
Künstlers würdig sind. Jeder Künstler wird, wenn er schafft, von mancherlei
Gründen bewegt, das, was er schafft, gerade so und nicht anders zu mache??.
Häufiger vielleicht noch, als man denkt, wird er äußere Gründe walte?? lassen,
Rücksichten nicht nur auf das Material, auf den Ort der Aufstellung, sondern
auch auf hundert Zufälligkeiten, welche das äußere Arrangement betreffen; er
wird die eine Stellung der anderen vorziehe??, weil, sie besser aussieht, er wird
ein Motiv in? Gewände bevorzuge??, weil es sich gut macht, er wird einem
Arme, einen? Beine eben diese Stellung geben, nicht weil er sich etwas dabei
denkt, sondern weil es poetischer oder geistvoller oder sonst irgend etwas erscheint.
Solche Rücksichten pflegt man "künstlerische" zu nenne?? -- unkünstlerische wäre


halten. Noch einmal wurde in Milo Halt gemacht, dann ging's dem Ziele
entgegen, wo sie denn endlich, nach einer mehr als halbjährigen Kreuz - und
Querfahrt, ohne weiteren Unfall ankam. 1821 wurde sie im Louvre aufgestellt
und wäre sicher nicht mehr aus ihrer Ruhe aufgeschreckt wordeu, wenn nicht
1870 die „Horden von Kantianern und Hegelianern" sich unterstanden hätten,
das arme unschuldige Frankreich zu überfalle«. Da wurde sie, in eine Kiste
gelegt, in den Keller der Präfectur geflüchtet und überstand dort unversehrt die
Belagerung vou Paris und den Brand des Präfeeturgebäudes. Seit dem Juni
1871 steht sie wieder im Louvre, auss neue ein Zielpunkt andachtsvoller
Wallfahrt, ein Gegenstand ebenso einmüthiger Bewunderung wie vielfältiger
Erklärung.

Denn in der That genügt es dem grübelnden Forschergeiste nicht, in helle
Bewunderung aufzuflammen; er möchte sich der Berechtigung dazu bewußt
werden, er mochte sich Rechenschaft über den Grund der Empfindung geben,
un?, wenn er zu einer tieferen Erkenntniß durchgedrungen, darin einen neuen
Anlaß für seiue Bewunderung zu finden. Gelingt es, die Absichten des Künstlers
ganz zu erkennen, sie in jeder Linie, jeden? Zuge nachklinge?? zu flehte??, ihn auf
dein Wege der Entstehung bis zum kleinsten Motiv in der Ausführung zu be¬
gleite??, der Schöpfung nachzugehen, wie sie von einem mächtigen Willen wach¬
gerufen sich verkörpert und die Gestalt bis ins Feinste mit Alles beherrschenden
Geiste durchdringt, so daß wir nicht nur fühlen, sondern erkennen: so mußte
es werden und wachsen, wie ein Naturwerk unter eben solche?? Bedingungen
hätte wachsen müssen, so erweitert sich nicht nur die Kenntniß des Kunstwerkes
selbst, so daß sie eigentlich erst eine vollständige wird, es ist vielmehr auch der
einzige Weg, den? große?? unbekannten Menschen, der solches geschaffen, näher
zu kommen und ihn genauer kennen zu lerne??, als wir es durch Ueberlieferung
von Namen und Schule hätten erreiche?? können. Dieser Mensch aber muß el??
großer Künstler gewesen sei??, und wollen wir sein Werk beurtheilen, so dürfe??
wir für seine Entstehung nur solche Beweggründe gelte?? lassen, die eines großen
Künstlers würdig sind. Jeder Künstler wird, wenn er schafft, von mancherlei
Gründen bewegt, das, was er schafft, gerade so und nicht anders zu mache??.
Häufiger vielleicht noch, als man denkt, wird er äußere Gründe walte?? lassen,
Rücksichten nicht nur auf das Material, auf den Ort der Aufstellung, sondern
auch auf hundert Zufälligkeiten, welche das äußere Arrangement betreffen; er
wird die eine Stellung der anderen vorziehe??, weil, sie besser aussieht, er wird
ein Motiv in? Gewände bevorzuge??, weil es sich gut macht, er wird einem
Arme, einen? Beine eben diese Stellung geben, nicht weil er sich etwas dabei
denkt, sondern weil es poetischer oder geistvoller oder sonst irgend etwas erscheint.
Solche Rücksichten pflegt man „künstlerische" zu nenne?? — unkünstlerische wäre


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[0029] halten. Noch einmal wurde in Milo Halt gemacht, dann ging's dem Ziele entgegen, wo sie denn endlich, nach einer mehr als halbjährigen Kreuz - und Querfahrt, ohne weiteren Unfall ankam. 1821 wurde sie im Louvre aufgestellt und wäre sicher nicht mehr aus ihrer Ruhe aufgeschreckt wordeu, wenn nicht 1870 die „Horden von Kantianern und Hegelianern" sich unterstanden hätten, das arme unschuldige Frankreich zu überfalle«. Da wurde sie, in eine Kiste gelegt, in den Keller der Präfectur geflüchtet und überstand dort unversehrt die Belagerung vou Paris und den Brand des Präfeeturgebäudes. Seit dem Juni 1871 steht sie wieder im Louvre, auss neue ein Zielpunkt andachtsvoller Wallfahrt, ein Gegenstand ebenso einmüthiger Bewunderung wie vielfältiger Erklärung. Denn in der That genügt es dem grübelnden Forschergeiste nicht, in helle Bewunderung aufzuflammen; er möchte sich der Berechtigung dazu bewußt werden, er mochte sich Rechenschaft über den Grund der Empfindung geben, un?, wenn er zu einer tieferen Erkenntniß durchgedrungen, darin einen neuen Anlaß für seiue Bewunderung zu finden. Gelingt es, die Absichten des Künstlers ganz zu erkennen, sie in jeder Linie, jeden? Zuge nachklinge?? zu flehte??, ihn auf dein Wege der Entstehung bis zum kleinsten Motiv in der Ausführung zu be¬ gleite??, der Schöpfung nachzugehen, wie sie von einem mächtigen Willen wach¬ gerufen sich verkörpert und die Gestalt bis ins Feinste mit Alles beherrschenden Geiste durchdringt, so daß wir nicht nur fühlen, sondern erkennen: so mußte es werden und wachsen, wie ein Naturwerk unter eben solche?? Bedingungen hätte wachsen müssen, so erweitert sich nicht nur die Kenntniß des Kunstwerkes selbst, so daß sie eigentlich erst eine vollständige wird, es ist vielmehr auch der einzige Weg, den? große?? unbekannten Menschen, der solches geschaffen, näher zu kommen und ihn genauer kennen zu lerne??, als wir es durch Ueberlieferung von Namen und Schule hätten erreiche?? können. Dieser Mensch aber muß el?? großer Künstler gewesen sei??, und wollen wir sein Werk beurtheilen, so dürfe?? wir für seine Entstehung nur solche Beweggründe gelte?? lassen, die eines großen Künstlers würdig sind. Jeder Künstler wird, wenn er schafft, von mancherlei Gründen bewegt, das, was er schafft, gerade so und nicht anders zu mache??. Häufiger vielleicht noch, als man denkt, wird er äußere Gründe walte?? lassen, Rücksichten nicht nur auf das Material, auf den Ort der Aufstellung, sondern auch auf hundert Zufälligkeiten, welche das äußere Arrangement betreffen; er wird die eine Stellung der anderen vorziehe??, weil, sie besser aussieht, er wird ein Motiv in? Gewände bevorzuge??, weil es sich gut macht, er wird einem Arme, einen? Beine eben diese Stellung geben, nicht weil er sich etwas dabei denkt, sondern weil es poetischer oder geistvoller oder sonst irgend etwas erscheint. Solche Rücksichten pflegt man „künstlerische" zu nenne?? — unkünstlerische wäre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/29>, abgerufen am 22.07.2024.