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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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nicht bloß feine feste Stellung in der Geschichte anzuweisen, sondern auch seinen
Gehalt möglichst scharf zu präcisiren und der Willkür überquellender Empfin-
dung zu entziehen. Dabei geht sie von der Erfahrung aus, daß das Große
weder plötzlich und unvorbereitet in die Welt tritt, noch ohne Nachwirkung
dahinzugehen pflegt. Sie sucht daher sorgfältig alle Spuren auf, welche zu
dem großen Werke hinzuführen scheinen, und verfolgt mit Spähersinn die
Wellenkreise, die es hinter sich zurückgelassen haben mag. Leider machen ihr
nicht alle großen Werke diese Arbeit leicht. Da taucht wohl eines auf, an einem
Punkte der antiken Welt, der nur schwer mit der Bedeutung des Kunst¬
werkes zu verewigen ist, nngerühint, ja ungenannt in der uns erhaltenen
Litteratur, ohne sicher nachzuweisende Verbindung mit der ihm vorhergehenden
Zeit, und wirkungslos, soweit wir wissen, in der Nachwelt. Trotz aller Be¬
mühung will es der Wissenschaft, die nichts Einzelnes duldet, nicht recht gelingen,
die Anknüpfungspunkte zu finden; es bleibt vereinzelt stehen, unentrcithselt, unge¬
löst. So ragt uns in einsamer Größe jenes weltberühmte Meisterwerk entgegen,
das dem kleinen, unbedeutenden Milo entstammt, und das der erstaunten Welt
als eine neue Offenbarung der hellenischen Kunst entgegentrat, auf welche kein
Ruhm des Ortes, kein Name eines Künstlers, kein Wort eines Schriftstellers
vorbereitet hatte. Und als ob dieses Werk recht eigentlich zum Gegenstande ruhe¬
loser Forschung bestimmt sein sollte, wird es uns in zertrümmerten: Zustande
im Verein mit räthselhaften Bruchstücken überliefert, und zu dem historischen
Räthsel gesellt sich das künstlerische mit der Frage nach der Ergänzung. Darf
es da Wunder nehmen, wenn die mannigfaltigsten Versuche einander ablösen,
wenn kein Jahrzehnt vergeht, ohne neue Phasen der Untersuchung auszuweisen?
Ein solcher erneuter Versuch ist es auch, der, in seinem Bestreben, das Gesammt-
ergebniß zu ziehen und die Frage einer endgiltigen Lösung näher zu bringen,
uns veranlaßt, die früher von uns selbst behandelte Frage in ihrem gegen¬
wärtigen Stande kurz darzulegen, die gewonnenen Resultate festzustellen und
den Weg anzudeuten, auf welchem nach unsrer Ueberzeugung allein eine Lösung
möglich ist. Vielleicht gelingt es, dieser Lösung über unsre eigne frühere Unter¬
suchung sowohl, wie über die neueren Versuche hinaus näher zu kommen.*)



Die erwähnte neueste, die sämmtlichen bisherigen Untersuchungen fleißig zusammen¬
stellende Schrift, welche allerdings, in der festen Ueberzeugung von der Richtigkeit der eignen
Ansicht, öfters rascher zu einen, sicheren Abschluß kommt, als räthlich wäre, führt den Titel:
Die Venus von Milo. Eine kunstgeschichtliche Monographie von Friedrich Frhrn.
Goeler von Ravensburg, Dr. xnil. Mit vier Tafeln in Lichtdruck. Heidelberg,
C. Winter, 1379, Unsre eigne, weiterhin öfter zu erwähnende Untersuchung "Die hohe Frau
von Milo" ist 1372 bei G, Reimer in Berlin erschienen. Ihr sind vier Tafeln mit Ab¬
bildungen, zum Theil in geometrischer Zeichnung, beigegeben.
Grenzboten l, 1830. 3

nicht bloß feine feste Stellung in der Geschichte anzuweisen, sondern auch seinen
Gehalt möglichst scharf zu präcisiren und der Willkür überquellender Empfin-
dung zu entziehen. Dabei geht sie von der Erfahrung aus, daß das Große
weder plötzlich und unvorbereitet in die Welt tritt, noch ohne Nachwirkung
dahinzugehen pflegt. Sie sucht daher sorgfältig alle Spuren auf, welche zu
dem großen Werke hinzuführen scheinen, und verfolgt mit Spähersinn die
Wellenkreise, die es hinter sich zurückgelassen haben mag. Leider machen ihr
nicht alle großen Werke diese Arbeit leicht. Da taucht wohl eines auf, an einem
Punkte der antiken Welt, der nur schwer mit der Bedeutung des Kunst¬
werkes zu verewigen ist, nngerühint, ja ungenannt in der uns erhaltenen
Litteratur, ohne sicher nachzuweisende Verbindung mit der ihm vorhergehenden
Zeit, und wirkungslos, soweit wir wissen, in der Nachwelt. Trotz aller Be¬
mühung will es der Wissenschaft, die nichts Einzelnes duldet, nicht recht gelingen,
die Anknüpfungspunkte zu finden; es bleibt vereinzelt stehen, unentrcithselt, unge¬
löst. So ragt uns in einsamer Größe jenes weltberühmte Meisterwerk entgegen,
das dem kleinen, unbedeutenden Milo entstammt, und das der erstaunten Welt
als eine neue Offenbarung der hellenischen Kunst entgegentrat, auf welche kein
Ruhm des Ortes, kein Name eines Künstlers, kein Wort eines Schriftstellers
vorbereitet hatte. Und als ob dieses Werk recht eigentlich zum Gegenstande ruhe¬
loser Forschung bestimmt sein sollte, wird es uns in zertrümmerten: Zustande
im Verein mit räthselhaften Bruchstücken überliefert, und zu dem historischen
Räthsel gesellt sich das künstlerische mit der Frage nach der Ergänzung. Darf
es da Wunder nehmen, wenn die mannigfaltigsten Versuche einander ablösen,
wenn kein Jahrzehnt vergeht, ohne neue Phasen der Untersuchung auszuweisen?
Ein solcher erneuter Versuch ist es auch, der, in seinem Bestreben, das Gesammt-
ergebniß zu ziehen und die Frage einer endgiltigen Lösung näher zu bringen,
uns veranlaßt, die früher von uns selbst behandelte Frage in ihrem gegen¬
wärtigen Stande kurz darzulegen, die gewonnenen Resultate festzustellen und
den Weg anzudeuten, auf welchem nach unsrer Ueberzeugung allein eine Lösung
möglich ist. Vielleicht gelingt es, dieser Lösung über unsre eigne frühere Unter¬
suchung sowohl, wie über die neueren Versuche hinaus näher zu kommen.*)



Die erwähnte neueste, die sämmtlichen bisherigen Untersuchungen fleißig zusammen¬
stellende Schrift, welche allerdings, in der festen Ueberzeugung von der Richtigkeit der eignen
Ansicht, öfters rascher zu einen, sicheren Abschluß kommt, als räthlich wäre, führt den Titel:
Die Venus von Milo. Eine kunstgeschichtliche Monographie von Friedrich Frhrn.
Goeler von Ravensburg, Dr. xnil. Mit vier Tafeln in Lichtdruck. Heidelberg,
C. Winter, 1379, Unsre eigne, weiterhin öfter zu erwähnende Untersuchung „Die hohe Frau
von Milo" ist 1372 bei G, Reimer in Berlin erschienen. Ihr sind vier Tafeln mit Ab¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/25>, abgerufen am 22.07.2024.