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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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betont, derartige poetische Stücke und Stellen in selten abgebrvchner Continuität
verfolgen bis herauf zu den Höhen unsrer klassischen Poesie, und wiederum
von den Tagen Goethes und Schillers bis zur jüngsten Vergangenheit und
unmittelbaren Gegenwart, bis zu Freiligraths warmen, klangvollen Pvetenge-
dichten und Paul Heyses sinnigen, stimmungsvollen literarischen Sonetten und
Episteln. Die Volkspoesie des sechzehnten Jahrhunderts, Luther und Hans
Sachs, die gelehrte Renaissancepoeste des siebzehnten in den beiden schlesischen
Schulen und den Hofpoeten, die Anakreontiker und die Odendichter des acht¬
zehnten Jahrhunderts in den Hallischen, Berliner und Halberstädter Kreisen,
Gottsched und seine Anhänger und Gegner, Klopstock und die Leipziger, der
Göttinger Hain und seine Verwandten, Lessing und Herder, Goethe und Schiller,
die Romantiker, die Dichter der Freiheitskriege, die "schwäbische Schule" und
so in ununterbrochner Reihe herab bis zu Hebbel und Geibel, Theodor Storm
und Victor Scheffel -- sie alle ziehen an unserm Auge in solchen Zeugnissen
aus Dichtermund vorüber. Und in dieser reichen Fülle ist nichts Unbedeutendes,
nichts, das nicht nach irgend einer Seite hin charakteristisch wäre; abgesehen
etwa von einigen Gelegenheitsgedichten im gewöhnlichsten Sinne des Wortes,
Festprvlogen u. tgi., möchten wir kaum eine einzige Nummer der reichen Samm¬
lung missen.

Was uns, auf den ersten Blick wenigstens, nicht recht behagen wollte, ist
der Umstand, daß die alten, echten, zeitgenössischen Stimmen, und die modernen,
retrospectiven in bunter Reihe in der Sammlung durch einander stehen. Es
ist auf diese Weise eine Kette entstanden, in der glänzende, farbenechte Perlen
mit blässeren, mattergefärbten auffällig abwechseln. Aber freilich, sollten die
letzteren nicht überhaupt ausgeschlossen werden -- und wer möchte ein Gedicht
wie "Hans Sachsens poetische Sendung" hinauswünschen? wie hätten sie
dann anders geordnet werden sollen?

Schwerer läßt sich ein anderes Bedenken abweisen. Jmelmanns Buch ist
weit entfernt, eine gewöhnliche Anthologie zu sein, es ist ein Buch von ent¬
schiedenem wissenschaftlichen Werthe, eine wichtige Ergänzung zu jeder deutschen
Literaturgeschichte. Da ist es denn zu bedauern, daß der Herausgeber sich überhaupt
die Beschränkung auferlegt hat, nur solche Stimmen vorzuführen, die in poeti¬
schem Gewände erscheinen. Durch diese Verbindung eines wissenschaftlichen und
eines ästhetischen Gesichtspunktes ist sein Buch doch auch wieder halb und halb
auf die Stufe einer bloßen Anthologie herabgerückt worden. Ein Quellenbuch
zur deutschen Literaturgeschichte, wie es uns vorschwebt, müßte eine umfassende
Sammlung aller zeitgenössischen Stimmen (die modernen würden darin ganz
auszuschließen sein) bilden, die über einen Dichter oder Schriftsteller selbst wieder
aus hervorragender Dichter- und Schriftstellerfeder geflossen find, gleichviel ob


betont, derartige poetische Stücke und Stellen in selten abgebrvchner Continuität
verfolgen bis herauf zu den Höhen unsrer klassischen Poesie, und wiederum
von den Tagen Goethes und Schillers bis zur jüngsten Vergangenheit und
unmittelbaren Gegenwart, bis zu Freiligraths warmen, klangvollen Pvetenge-
dichten und Paul Heyses sinnigen, stimmungsvollen literarischen Sonetten und
Episteln. Die Volkspoesie des sechzehnten Jahrhunderts, Luther und Hans
Sachs, die gelehrte Renaissancepoeste des siebzehnten in den beiden schlesischen
Schulen und den Hofpoeten, die Anakreontiker und die Odendichter des acht¬
zehnten Jahrhunderts in den Hallischen, Berliner und Halberstädter Kreisen,
Gottsched und seine Anhänger und Gegner, Klopstock und die Leipziger, der
Göttinger Hain und seine Verwandten, Lessing und Herder, Goethe und Schiller,
die Romantiker, die Dichter der Freiheitskriege, die „schwäbische Schule" und
so in ununterbrochner Reihe herab bis zu Hebbel und Geibel, Theodor Storm
und Victor Scheffel — sie alle ziehen an unserm Auge in solchen Zeugnissen
aus Dichtermund vorüber. Und in dieser reichen Fülle ist nichts Unbedeutendes,
nichts, das nicht nach irgend einer Seite hin charakteristisch wäre; abgesehen
etwa von einigen Gelegenheitsgedichten im gewöhnlichsten Sinne des Wortes,
Festprvlogen u. tgi., möchten wir kaum eine einzige Nummer der reichen Samm¬
lung missen.

Was uns, auf den ersten Blick wenigstens, nicht recht behagen wollte, ist
der Umstand, daß die alten, echten, zeitgenössischen Stimmen, und die modernen,
retrospectiven in bunter Reihe in der Sammlung durch einander stehen. Es
ist auf diese Weise eine Kette entstanden, in der glänzende, farbenechte Perlen
mit blässeren, mattergefärbten auffällig abwechseln. Aber freilich, sollten die
letzteren nicht überhaupt ausgeschlossen werden — und wer möchte ein Gedicht
wie „Hans Sachsens poetische Sendung" hinauswünschen? wie hätten sie
dann anders geordnet werden sollen?

Schwerer läßt sich ein anderes Bedenken abweisen. Jmelmanns Buch ist
weit entfernt, eine gewöhnliche Anthologie zu sein, es ist ein Buch von ent¬
schiedenem wissenschaftlichen Werthe, eine wichtige Ergänzung zu jeder deutschen
Literaturgeschichte. Da ist es denn zu bedauern, daß der Herausgeber sich überhaupt
die Beschränkung auferlegt hat, nur solche Stimmen vorzuführen, die in poeti¬
schem Gewände erscheinen. Durch diese Verbindung eines wissenschaftlichen und
eines ästhetischen Gesichtspunktes ist sein Buch doch auch wieder halb und halb
auf die Stufe einer bloßen Anthologie herabgerückt worden. Ein Quellenbuch
zur deutschen Literaturgeschichte, wie es uns vorschwebt, müßte eine umfassende
Sammlung aller zeitgenössischen Stimmen (die modernen würden darin ganz
auszuschließen sein) bilden, die über einen Dichter oder Schriftsteller selbst wieder
aus hervorragender Dichter- und Schriftstellerfeder geflossen find, gleichviel ob


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[0248] betont, derartige poetische Stücke und Stellen in selten abgebrvchner Continuität verfolgen bis herauf zu den Höhen unsrer klassischen Poesie, und wiederum von den Tagen Goethes und Schillers bis zur jüngsten Vergangenheit und unmittelbaren Gegenwart, bis zu Freiligraths warmen, klangvollen Pvetenge- dichten und Paul Heyses sinnigen, stimmungsvollen literarischen Sonetten und Episteln. Die Volkspoesie des sechzehnten Jahrhunderts, Luther und Hans Sachs, die gelehrte Renaissancepoeste des siebzehnten in den beiden schlesischen Schulen und den Hofpoeten, die Anakreontiker und die Odendichter des acht¬ zehnten Jahrhunderts in den Hallischen, Berliner und Halberstädter Kreisen, Gottsched und seine Anhänger und Gegner, Klopstock und die Leipziger, der Göttinger Hain und seine Verwandten, Lessing und Herder, Goethe und Schiller, die Romantiker, die Dichter der Freiheitskriege, die „schwäbische Schule" und so in ununterbrochner Reihe herab bis zu Hebbel und Geibel, Theodor Storm und Victor Scheffel — sie alle ziehen an unserm Auge in solchen Zeugnissen aus Dichtermund vorüber. Und in dieser reichen Fülle ist nichts Unbedeutendes, nichts, das nicht nach irgend einer Seite hin charakteristisch wäre; abgesehen etwa von einigen Gelegenheitsgedichten im gewöhnlichsten Sinne des Wortes, Festprvlogen u. tgi., möchten wir kaum eine einzige Nummer der reichen Samm¬ lung missen. Was uns, auf den ersten Blick wenigstens, nicht recht behagen wollte, ist der Umstand, daß die alten, echten, zeitgenössischen Stimmen, und die modernen, retrospectiven in bunter Reihe in der Sammlung durch einander stehen. Es ist auf diese Weise eine Kette entstanden, in der glänzende, farbenechte Perlen mit blässeren, mattergefärbten auffällig abwechseln. Aber freilich, sollten die letzteren nicht überhaupt ausgeschlossen werden — und wer möchte ein Gedicht wie „Hans Sachsens poetische Sendung" hinauswünschen? wie hätten sie dann anders geordnet werden sollen? Schwerer läßt sich ein anderes Bedenken abweisen. Jmelmanns Buch ist weit entfernt, eine gewöhnliche Anthologie zu sein, es ist ein Buch von ent¬ schiedenem wissenschaftlichen Werthe, eine wichtige Ergänzung zu jeder deutschen Literaturgeschichte. Da ist es denn zu bedauern, daß der Herausgeber sich überhaupt die Beschränkung auferlegt hat, nur solche Stimmen vorzuführen, die in poeti¬ schem Gewände erscheinen. Durch diese Verbindung eines wissenschaftlichen und eines ästhetischen Gesichtspunktes ist sein Buch doch auch wieder halb und halb auf die Stufe einer bloßen Anthologie herabgerückt worden. Ein Quellenbuch zur deutschen Literaturgeschichte, wie es uns vorschwebt, müßte eine umfassende Sammlung aller zeitgenössischen Stimmen (die modernen würden darin ganz auszuschließen sein) bilden, die über einen Dichter oder Schriftsteller selbst wieder aus hervorragender Dichter- und Schriftstellerfeder geflossen find, gleichviel ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/248>, abgerufen am 23.07.2024.