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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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ziehen und seiner endgiltigen Entwicklung entgegengehen sieht, ist eines der
lehrreichsten, welches die Weltgeschichte überhaupt bietet. Wenn irgend ein
Ereigniß, so ist dieser allmähliche Zusammenbruch des türkischen Reiches ein
leuchtender Beweis dafür, daß das endgiltig Entscheidende in der historischen
Entwicklung der einzelnen Nationen wie der Menschheit überhaupt der sittliche
Geist ist, der die Volker belebt. Nicht, weil die übrigen europäischen Mächte
numerisch der Türkei überlegen sind, geht diese zu Grunde, sondern weil der
osmanische Geist unfähig ist, sich den civilisatorischen Elementen des Occidents
anzupassen. Die physischen Mittel, die Gaben der Natur, über welche die
Türkei gebietet, sind ebenso groß, vielleicht großer als die der übrigen euro¬
päischen Staaten. Indem es aber der Islam verschmäht, sich die Resultate der
europäischen Civilisation anzueignen, wird er unfähig, die Mittel, welche ihm
die Natur darbietet, auszunutzen und für den Kampf ums Dasein zu verwerthen.

Zur Bekräftigung für diese trübe, aber unumstößliche Wahrheit fügen wir
unsern Ausführungen die schönen und wahren Worte an, mit denen Ranke sein
neuestes Werk schließt. "Das osmanische Reich," sagt er (S. 518 fg.), "ist von
dem christlichen Wesen übermannt und nach allen Richtungen durchdrungen.
Sagen wir: das christliche Wesen, so verstehen wir darunter freilich nicht aus¬
schließend die Religion; auch mit den Worten: Cultur, Civilisation würde mau
es nur unvollkommen bezeichnen. Es ist der Genius des Occidents. Es ist
der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen
zieht, die Canüle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in fein Eigenthum
verwandelt, die entfernten Continente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefen der
Natur mit exacter Forschung ergründet und alle Gebiete des Wissens eingenommen
hat und sie mit immer frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit
aus den Augen zu verlieren, die unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit
ihrer Leidenschaften Ordnung und Gesetz handhabt. In ungeheuren: Fortschritt
sehen wir diesen Geist begriffen. Er hat Amerika den rohen Kräften der Natur
und unbildsamen Nationen abgewonnen und durchaus umgewandelt; auf ver¬
schiedenen Wegen dringt er in das entfernteste Asien vor, und kaum China
verschließt sich ihm noch; er umspannt Afrika an allen Küsten; unaufhaltsam,
vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaft unwiderstehlich ausgerüstet,
bemeistert er die Welt. In den letzten Jahrzehnten ist er in das osmanische
Reich gewaltig vorgedrungen. In Griechenland und in Serbien, in Aegypten
und Constantinopel, hat er sich seine Organe erschaffen." Und weiter: "Der
Geist des muhamedanischen Staates ist an sich selber irre geworden; seine
Farbe verbleicht; die Geister des Occidents überwältigen ihn. Was auch ge^
Seschen möge, so dürfen wir wohl auf dem Standpunkte der historischen Betrach¬
tung mit Sicherheit aussprechen, daß dies große Ereigniß nicht wieder rückgängig


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ziehen und seiner endgiltigen Entwicklung entgegengehen sieht, ist eines der
lehrreichsten, welches die Weltgeschichte überhaupt bietet. Wenn irgend ein
Ereigniß, so ist dieser allmähliche Zusammenbruch des türkischen Reiches ein
leuchtender Beweis dafür, daß das endgiltig Entscheidende in der historischen
Entwicklung der einzelnen Nationen wie der Menschheit überhaupt der sittliche
Geist ist, der die Volker belebt. Nicht, weil die übrigen europäischen Mächte
numerisch der Türkei überlegen sind, geht diese zu Grunde, sondern weil der
osmanische Geist unfähig ist, sich den civilisatorischen Elementen des Occidents
anzupassen. Die physischen Mittel, die Gaben der Natur, über welche die
Türkei gebietet, sind ebenso groß, vielleicht großer als die der übrigen euro¬
päischen Staaten. Indem es aber der Islam verschmäht, sich die Resultate der
europäischen Civilisation anzueignen, wird er unfähig, die Mittel, welche ihm
die Natur darbietet, auszunutzen und für den Kampf ums Dasein zu verwerthen.

Zur Bekräftigung für diese trübe, aber unumstößliche Wahrheit fügen wir
unsern Ausführungen die schönen und wahren Worte an, mit denen Ranke sein
neuestes Werk schließt. „Das osmanische Reich," sagt er (S. 518 fg.), „ist von
dem christlichen Wesen übermannt und nach allen Richtungen durchdrungen.
Sagen wir: das christliche Wesen, so verstehen wir darunter freilich nicht aus¬
schließend die Religion; auch mit den Worten: Cultur, Civilisation würde mau
es nur unvollkommen bezeichnen. Es ist der Genius des Occidents. Es ist
der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen
zieht, die Canüle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in fein Eigenthum
verwandelt, die entfernten Continente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefen der
Natur mit exacter Forschung ergründet und alle Gebiete des Wissens eingenommen
hat und sie mit immer frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit
aus den Augen zu verlieren, die unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit
ihrer Leidenschaften Ordnung und Gesetz handhabt. In ungeheuren: Fortschritt
sehen wir diesen Geist begriffen. Er hat Amerika den rohen Kräften der Natur
und unbildsamen Nationen abgewonnen und durchaus umgewandelt; auf ver¬
schiedenen Wegen dringt er in das entfernteste Asien vor, und kaum China
verschließt sich ihm noch; er umspannt Afrika an allen Küsten; unaufhaltsam,
vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaft unwiderstehlich ausgerüstet,
bemeistert er die Welt. In den letzten Jahrzehnten ist er in das osmanische
Reich gewaltig vorgedrungen. In Griechenland und in Serbien, in Aegypten
und Constantinopel, hat er sich seine Organe erschaffen." Und weiter: „Der
Geist des muhamedanischen Staates ist an sich selber irre geworden; seine
Farbe verbleicht; die Geister des Occidents überwältigen ihn. Was auch ge^
Seschen möge, so dürfen wir wohl auf dem Standpunkte der historischen Betrach¬
tung mit Sicherheit aussprechen, daß dies große Ereigniß nicht wieder rückgängig


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[0204] » ziehen und seiner endgiltigen Entwicklung entgegengehen sieht, ist eines der lehrreichsten, welches die Weltgeschichte überhaupt bietet. Wenn irgend ein Ereigniß, so ist dieser allmähliche Zusammenbruch des türkischen Reiches ein leuchtender Beweis dafür, daß das endgiltig Entscheidende in der historischen Entwicklung der einzelnen Nationen wie der Menschheit überhaupt der sittliche Geist ist, der die Volker belebt. Nicht, weil die übrigen europäischen Mächte numerisch der Türkei überlegen sind, geht diese zu Grunde, sondern weil der osmanische Geist unfähig ist, sich den civilisatorischen Elementen des Occidents anzupassen. Die physischen Mittel, die Gaben der Natur, über welche die Türkei gebietet, sind ebenso groß, vielleicht großer als die der übrigen euro¬ päischen Staaten. Indem es aber der Islam verschmäht, sich die Resultate der europäischen Civilisation anzueignen, wird er unfähig, die Mittel, welche ihm die Natur darbietet, auszunutzen und für den Kampf ums Dasein zu verwerthen. Zur Bekräftigung für diese trübe, aber unumstößliche Wahrheit fügen wir unsern Ausführungen die schönen und wahren Worte an, mit denen Ranke sein neuestes Werk schließt. „Das osmanische Reich," sagt er (S. 518 fg.), „ist von dem christlichen Wesen übermannt und nach allen Richtungen durchdrungen. Sagen wir: das christliche Wesen, so verstehen wir darunter freilich nicht aus¬ schließend die Religion; auch mit den Worten: Cultur, Civilisation würde mau es nur unvollkommen bezeichnen. Es ist der Genius des Occidents. Es ist der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen zieht, die Canüle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in fein Eigenthum verwandelt, die entfernten Continente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefen der Natur mit exacter Forschung ergründet und alle Gebiete des Wissens eingenommen hat und sie mit immer frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit aus den Augen zu verlieren, die unter den Menschen trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften Ordnung und Gesetz handhabt. In ungeheuren: Fortschritt sehen wir diesen Geist begriffen. Er hat Amerika den rohen Kräften der Natur und unbildsamen Nationen abgewonnen und durchaus umgewandelt; auf ver¬ schiedenen Wegen dringt er in das entfernteste Asien vor, und kaum China verschließt sich ihm noch; er umspannt Afrika an allen Küsten; unaufhaltsam, vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaft unwiderstehlich ausgerüstet, bemeistert er die Welt. In den letzten Jahrzehnten ist er in das osmanische Reich gewaltig vorgedrungen. In Griechenland und in Serbien, in Aegypten und Constantinopel, hat er sich seine Organe erschaffen." Und weiter: „Der Geist des muhamedanischen Staates ist an sich selber irre geworden; seine Farbe verbleicht; die Geister des Occidents überwältigen ihn. Was auch ge^ Seschen möge, so dürfen wir wohl auf dem Standpunkte der historischen Betrach¬ tung mit Sicherheit aussprechen, daß dies große Ereigniß nicht wieder rückgängig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/204>, abgerufen am 23.07.2024.