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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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und Seelengröße können nur durch eine höhere, auf das Allgemeine gerichtete
Bildung in die verwilderten Gemüther der Osmanen gebracht werden. Aber
Vieles von den glückverheißenden Einrichtungen ist im Gewühl des letzten,
furchtbaren Kampfes um die Existenz wieder zu Grunde gegangen, vor allem
aber fehlt es zu einer durchgreifenden Fortführung der begonnenen Reformen
an dem nothwendigsten, an -- Geld.

Der trostlose Zustand der türkischen Finanzen ist fast sprichwörtlich geworden.
Und doch wird uns von Reisenden immer und immer wieder versichert, daß das
Land, vernünftig und fleißig bewirthschaftet, die ergiebigsten Hilfsquellen darbiete.
Hier zeigt sich die ganze furchtbare Consequenz der Abneigung des in fatalisti¬
schen Gleichmuthe dahinlebenden Osmanen gegen den Ackerbau; hier zeigt sich
auch andrerseits, daß der Bauernstand auf den früheren Stufen der staatlichen
Entwicklung die einzige haltbare Grundlage einer gesunden socialen Gestaltung
ist. Sowie sich die occidentalische Civilisation dieser von ihren eigenen Be¬
wohnern vernachlässigten Landstriche bemächtigen würde, würden sie, weit ent¬
fernt, ein Deficit in der Verwaltung zu ergeben, einen beträchtlichen Ueberschuß
abwerfen. Freilich dürfen die Abgaben von den Bodenerzeugnissen nicht von
türkischen Paschas eingetrieben werden, welche einen beliebigen Theil der Erträge
an die Regierung abliefern, um das Uebrige für sich zubehalten; eine geordnete
und controlirbare Verwaltung wäre auch hier die Grundbedingung eines ge¬
deihlichen Zustandes. Statt dessen wies das türkische Budget schon in dem Vor¬
anschlage für 1875/76 einer Einnahme von 19175 841 Pfund Sterling gegen¬
über eine Ausgabe von 23100348 Pfund Sterling auf; thatsächlich ist aber
durch die ungeheuren Ausgaben, welche der Krieg gegen Rußland erforderte,
das Deficit auf 17 Mill. Pfund Sterling gestiegen. Die Staatsanleihen hatten
schon im Jahre 1876 die enorme Summe von 182 981783 Pfund erreicht,
welche jährlich nahe an 9 Mill. Pfund, d. h. fast die Hälfte des gesummten
Einnahme-Etats, Zinsen erfordern. Dies hatte schon im Oetober 1875 einen
versteckten Staatsbankrott zur Folge gehabt, indem die Pforte erklärte, die
Zinsen der Staatsschuld einstweilen auf die Hälfte herabsetzen, für die andere
Hälfte aber neue verzinsbare Schnldobligationen ausstellen zu müssen.

So desperaten inneren Zuständen gegenüber bietet eigentlich momentan die
einzige Gewähr für eine zeitweilige Fortexistenz der Türkei auf europäischem
Boden die Armee, aus der doch noch nicht alle sittlichen Kräfte entwichen sind;
für die Dauer aber wird auch sie nicht im Stande sein, dem einmal eingetretenen
Verfall im Inneren Einhalt zu thun, zumal gerade in ihr die Elemente, welche
jeder heilsamen Reform im Inneren widerstreben, bei weitem überwiegen.

Das Schauspiel, welches so Europa seit einem Jahrhundert an sich vorüber-


und Seelengröße können nur durch eine höhere, auf das Allgemeine gerichtete
Bildung in die verwilderten Gemüther der Osmanen gebracht werden. Aber
Vieles von den glückverheißenden Einrichtungen ist im Gewühl des letzten,
furchtbaren Kampfes um die Existenz wieder zu Grunde gegangen, vor allem
aber fehlt es zu einer durchgreifenden Fortführung der begonnenen Reformen
an dem nothwendigsten, an — Geld.

Der trostlose Zustand der türkischen Finanzen ist fast sprichwörtlich geworden.
Und doch wird uns von Reisenden immer und immer wieder versichert, daß das
Land, vernünftig und fleißig bewirthschaftet, die ergiebigsten Hilfsquellen darbiete.
Hier zeigt sich die ganze furchtbare Consequenz der Abneigung des in fatalisti¬
schen Gleichmuthe dahinlebenden Osmanen gegen den Ackerbau; hier zeigt sich
auch andrerseits, daß der Bauernstand auf den früheren Stufen der staatlichen
Entwicklung die einzige haltbare Grundlage einer gesunden socialen Gestaltung
ist. Sowie sich die occidentalische Civilisation dieser von ihren eigenen Be¬
wohnern vernachlässigten Landstriche bemächtigen würde, würden sie, weit ent¬
fernt, ein Deficit in der Verwaltung zu ergeben, einen beträchtlichen Ueberschuß
abwerfen. Freilich dürfen die Abgaben von den Bodenerzeugnissen nicht von
türkischen Paschas eingetrieben werden, welche einen beliebigen Theil der Erträge
an die Regierung abliefern, um das Uebrige für sich zubehalten; eine geordnete
und controlirbare Verwaltung wäre auch hier die Grundbedingung eines ge¬
deihlichen Zustandes. Statt dessen wies das türkische Budget schon in dem Vor¬
anschlage für 1875/76 einer Einnahme von 19175 841 Pfund Sterling gegen¬
über eine Ausgabe von 23100348 Pfund Sterling auf; thatsächlich ist aber
durch die ungeheuren Ausgaben, welche der Krieg gegen Rußland erforderte,
das Deficit auf 17 Mill. Pfund Sterling gestiegen. Die Staatsanleihen hatten
schon im Jahre 1876 die enorme Summe von 182 981783 Pfund erreicht,
welche jährlich nahe an 9 Mill. Pfund, d. h. fast die Hälfte des gesummten
Einnahme-Etats, Zinsen erfordern. Dies hatte schon im Oetober 1875 einen
versteckten Staatsbankrott zur Folge gehabt, indem die Pforte erklärte, die
Zinsen der Staatsschuld einstweilen auf die Hälfte herabsetzen, für die andere
Hälfte aber neue verzinsbare Schnldobligationen ausstellen zu müssen.

So desperaten inneren Zuständen gegenüber bietet eigentlich momentan die
einzige Gewähr für eine zeitweilige Fortexistenz der Türkei auf europäischem
Boden die Armee, aus der doch noch nicht alle sittlichen Kräfte entwichen sind;
für die Dauer aber wird auch sie nicht im Stande sein, dem einmal eingetretenen
Verfall im Inneren Einhalt zu thun, zumal gerade in ihr die Elemente, welche
jeder heilsamen Reform im Inneren widerstreben, bei weitem überwiegen.

Das Schauspiel, welches so Europa seit einem Jahrhundert an sich vorüber-


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[0203] und Seelengröße können nur durch eine höhere, auf das Allgemeine gerichtete Bildung in die verwilderten Gemüther der Osmanen gebracht werden. Aber Vieles von den glückverheißenden Einrichtungen ist im Gewühl des letzten, furchtbaren Kampfes um die Existenz wieder zu Grunde gegangen, vor allem aber fehlt es zu einer durchgreifenden Fortführung der begonnenen Reformen an dem nothwendigsten, an — Geld. Der trostlose Zustand der türkischen Finanzen ist fast sprichwörtlich geworden. Und doch wird uns von Reisenden immer und immer wieder versichert, daß das Land, vernünftig und fleißig bewirthschaftet, die ergiebigsten Hilfsquellen darbiete. Hier zeigt sich die ganze furchtbare Consequenz der Abneigung des in fatalisti¬ schen Gleichmuthe dahinlebenden Osmanen gegen den Ackerbau; hier zeigt sich auch andrerseits, daß der Bauernstand auf den früheren Stufen der staatlichen Entwicklung die einzige haltbare Grundlage einer gesunden socialen Gestaltung ist. Sowie sich die occidentalische Civilisation dieser von ihren eigenen Be¬ wohnern vernachlässigten Landstriche bemächtigen würde, würden sie, weit ent¬ fernt, ein Deficit in der Verwaltung zu ergeben, einen beträchtlichen Ueberschuß abwerfen. Freilich dürfen die Abgaben von den Bodenerzeugnissen nicht von türkischen Paschas eingetrieben werden, welche einen beliebigen Theil der Erträge an die Regierung abliefern, um das Uebrige für sich zubehalten; eine geordnete und controlirbare Verwaltung wäre auch hier die Grundbedingung eines ge¬ deihlichen Zustandes. Statt dessen wies das türkische Budget schon in dem Vor¬ anschlage für 1875/76 einer Einnahme von 19175 841 Pfund Sterling gegen¬ über eine Ausgabe von 23100348 Pfund Sterling auf; thatsächlich ist aber durch die ungeheuren Ausgaben, welche der Krieg gegen Rußland erforderte, das Deficit auf 17 Mill. Pfund Sterling gestiegen. Die Staatsanleihen hatten schon im Jahre 1876 die enorme Summe von 182 981783 Pfund erreicht, welche jährlich nahe an 9 Mill. Pfund, d. h. fast die Hälfte des gesummten Einnahme-Etats, Zinsen erfordern. Dies hatte schon im Oetober 1875 einen versteckten Staatsbankrott zur Folge gehabt, indem die Pforte erklärte, die Zinsen der Staatsschuld einstweilen auf die Hälfte herabsetzen, für die andere Hälfte aber neue verzinsbare Schnldobligationen ausstellen zu müssen. So desperaten inneren Zuständen gegenüber bietet eigentlich momentan die einzige Gewähr für eine zeitweilige Fortexistenz der Türkei auf europäischem Boden die Armee, aus der doch noch nicht alle sittlichen Kräfte entwichen sind; für die Dauer aber wird auch sie nicht im Stande sein, dem einmal eingetretenen Verfall im Inneren Einhalt zu thun, zumal gerade in ihr die Elemente, welche jeder heilsamen Reform im Inneren widerstreben, bei weitem überwiegen. Das Schauspiel, welches so Europa seit einem Jahrhundert an sich vorüber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/203>, abgerufen am 03.07.2024.