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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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führbare Maßregeln gewährleistet ist. Was bedeuten Preßfreiheit, Petitions-
und Versammlungsrecht, wenn das einfachste Recht jeder socialen Gestaltung,
Sicherheit des Lebens und des Eigenthums, noch immer in Frage gestellt ist?
Man würde Unrecht thun, wenn man den Zustand eines Volkes nach den hin
und wieder auftauchenden Ausbrüchen einer gewaltsamen inneren Entzweiung
allein beurtheilen wollte, gerade wie man dem Naturforscher mit Recht einen
Vorwurf daraus machen würde, wenn er die in der Erde wirkenden Kräfte
nur nach den vulcanischen Eruptionen, die Elektricität nur nach den verheeren¬
den Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte. Aber bezeichnende Symptome
der im Innern geheim wirkenden Kräfte sind und bleiben sie doch. Die Ermor¬
dung des deutscheu und des französischen Consuls in Saloniki, am 6. Mai 1876,
die fortwährend wieder aufflackernden Feindseligkeiten der Muhamedaner gegen
die Christen in Syrien sind allerdings vereinzelte und vorübergehende Erschei¬
nungen, aber doch ebensoviel" Symptome des im Geheimen, aber um so inten¬
siver wirkenden Hasses, der in den Gemüthern der Muhamedaner wuchert.

Aber es sind auch Symptome des zunehmenden Verfalles des türkischen
Reiches überhaupt. Der Türke fühlt instinctiv, daß ihm die Christen intellectuell
und moralisch überlegen sind. Mit dem fatalistischen Gleichmut!), der ihm wie
kaum einer andern Nation eigen ist, spricht er es aus: Allah will es, daß wir
arm und die Christen reich werden. Weil der Islam sich den Institutionen
der fortgeschrittenen europäischen Civilisation nicht anzupassen vermag, geht er
seinem unaufhaltsamen Ruin entgegen. Es ist sehr bezeichnend, "daß im Jahre
1854 die französische Einquartierung binnen wenigen Wochen in Reinigung, Be¬
leuchtung und Sicherung der städtischen Straßen mehr leistete als die osmanische
Polizei seit Menschengedenken".*) Ist es nicht eben das sicherste Zeichen der
sittlichen und physischen Ohnmacht eines Staates, wenn er die Pflichten gegen
seine eigenen Unterthanen, die Sorge für deren Sicherheit und Bequemlichkeit,
die Förderung von Handel und Verkehr nicht mehr zu erfüllen vermag? Von
militärischen Niederlagen kann sich ein Volk wieder erholen; davon hat das
preußische Volk am Anfange unseres Jahrhunderts einen glänzenden Beweis
geliefert. Innerer Verfall aber kann nur zu einer durchgreifenden Verbesserung
von Grund aus oder zu völligem Ruin des Staatswesens selbst führen. Erstere
hat sich bisher stets als unmöglich herausgestellt; ergreift man aber nicht bald
die geeigneten Mittel zur Besserung, dann ist der Eintritt der zweiten Even¬
tualität nur noch eine Frage der Zeit.

Die gesammten inneren Zustände der Türkei kranken an derselben inneren
Unwahrheit wie das Verhältniß der Türken zu den Christen. Nach der durch



") Vergl. die Einleitung zu dem Nankeschen Gutachten bei Sybel a. a. O, S, 411.
Grenzboten l. 1830. 25

führbare Maßregeln gewährleistet ist. Was bedeuten Preßfreiheit, Petitions-
und Versammlungsrecht, wenn das einfachste Recht jeder socialen Gestaltung,
Sicherheit des Lebens und des Eigenthums, noch immer in Frage gestellt ist?
Man würde Unrecht thun, wenn man den Zustand eines Volkes nach den hin
und wieder auftauchenden Ausbrüchen einer gewaltsamen inneren Entzweiung
allein beurtheilen wollte, gerade wie man dem Naturforscher mit Recht einen
Vorwurf daraus machen würde, wenn er die in der Erde wirkenden Kräfte
nur nach den vulcanischen Eruptionen, die Elektricität nur nach den verheeren¬
den Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte. Aber bezeichnende Symptome
der im Innern geheim wirkenden Kräfte sind und bleiben sie doch. Die Ermor¬
dung des deutscheu und des französischen Consuls in Saloniki, am 6. Mai 1876,
die fortwährend wieder aufflackernden Feindseligkeiten der Muhamedaner gegen
die Christen in Syrien sind allerdings vereinzelte und vorübergehende Erschei¬
nungen, aber doch ebensoviel« Symptome des im Geheimen, aber um so inten¬
siver wirkenden Hasses, der in den Gemüthern der Muhamedaner wuchert.

Aber es sind auch Symptome des zunehmenden Verfalles des türkischen
Reiches überhaupt. Der Türke fühlt instinctiv, daß ihm die Christen intellectuell
und moralisch überlegen sind. Mit dem fatalistischen Gleichmut!), der ihm wie
kaum einer andern Nation eigen ist, spricht er es aus: Allah will es, daß wir
arm und die Christen reich werden. Weil der Islam sich den Institutionen
der fortgeschrittenen europäischen Civilisation nicht anzupassen vermag, geht er
seinem unaufhaltsamen Ruin entgegen. Es ist sehr bezeichnend, „daß im Jahre
1854 die französische Einquartierung binnen wenigen Wochen in Reinigung, Be¬
leuchtung und Sicherung der städtischen Straßen mehr leistete als die osmanische
Polizei seit Menschengedenken".*) Ist es nicht eben das sicherste Zeichen der
sittlichen und physischen Ohnmacht eines Staates, wenn er die Pflichten gegen
seine eigenen Unterthanen, die Sorge für deren Sicherheit und Bequemlichkeit,
die Förderung von Handel und Verkehr nicht mehr zu erfüllen vermag? Von
militärischen Niederlagen kann sich ein Volk wieder erholen; davon hat das
preußische Volk am Anfange unseres Jahrhunderts einen glänzenden Beweis
geliefert. Innerer Verfall aber kann nur zu einer durchgreifenden Verbesserung
von Grund aus oder zu völligem Ruin des Staatswesens selbst führen. Erstere
hat sich bisher stets als unmöglich herausgestellt; ergreift man aber nicht bald
die geeigneten Mittel zur Besserung, dann ist der Eintritt der zweiten Even¬
tualität nur noch eine Frage der Zeit.

Die gesammten inneren Zustände der Türkei kranken an derselben inneren
Unwahrheit wie das Verhältniß der Türken zu den Christen. Nach der durch



») Vergl. die Einleitung zu dem Nankeschen Gutachten bei Sybel a. a. O, S, 411.
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[0201] führbare Maßregeln gewährleistet ist. Was bedeuten Preßfreiheit, Petitions- und Versammlungsrecht, wenn das einfachste Recht jeder socialen Gestaltung, Sicherheit des Lebens und des Eigenthums, noch immer in Frage gestellt ist? Man würde Unrecht thun, wenn man den Zustand eines Volkes nach den hin und wieder auftauchenden Ausbrüchen einer gewaltsamen inneren Entzweiung allein beurtheilen wollte, gerade wie man dem Naturforscher mit Recht einen Vorwurf daraus machen würde, wenn er die in der Erde wirkenden Kräfte nur nach den vulcanischen Eruptionen, die Elektricität nur nach den verheeren¬ den Wirkungen des Blitzes beurtheilen wollte. Aber bezeichnende Symptome der im Innern geheim wirkenden Kräfte sind und bleiben sie doch. Die Ermor¬ dung des deutscheu und des französischen Consuls in Saloniki, am 6. Mai 1876, die fortwährend wieder aufflackernden Feindseligkeiten der Muhamedaner gegen die Christen in Syrien sind allerdings vereinzelte und vorübergehende Erschei¬ nungen, aber doch ebensoviel« Symptome des im Geheimen, aber um so inten¬ siver wirkenden Hasses, der in den Gemüthern der Muhamedaner wuchert. Aber es sind auch Symptome des zunehmenden Verfalles des türkischen Reiches überhaupt. Der Türke fühlt instinctiv, daß ihm die Christen intellectuell und moralisch überlegen sind. Mit dem fatalistischen Gleichmut!), der ihm wie kaum einer andern Nation eigen ist, spricht er es aus: Allah will es, daß wir arm und die Christen reich werden. Weil der Islam sich den Institutionen der fortgeschrittenen europäischen Civilisation nicht anzupassen vermag, geht er seinem unaufhaltsamen Ruin entgegen. Es ist sehr bezeichnend, „daß im Jahre 1854 die französische Einquartierung binnen wenigen Wochen in Reinigung, Be¬ leuchtung und Sicherung der städtischen Straßen mehr leistete als die osmanische Polizei seit Menschengedenken".*) Ist es nicht eben das sicherste Zeichen der sittlichen und physischen Ohnmacht eines Staates, wenn er die Pflichten gegen seine eigenen Unterthanen, die Sorge für deren Sicherheit und Bequemlichkeit, die Förderung von Handel und Verkehr nicht mehr zu erfüllen vermag? Von militärischen Niederlagen kann sich ein Volk wieder erholen; davon hat das preußische Volk am Anfange unseres Jahrhunderts einen glänzenden Beweis geliefert. Innerer Verfall aber kann nur zu einer durchgreifenden Verbesserung von Grund aus oder zu völligem Ruin des Staatswesens selbst führen. Erstere hat sich bisher stets als unmöglich herausgestellt; ergreift man aber nicht bald die geeigneten Mittel zur Besserung, dann ist der Eintritt der zweiten Even¬ tualität nur noch eine Frage der Zeit. Die gesammten inneren Zustände der Türkei kranken an derselben inneren Unwahrheit wie das Verhältniß der Türken zu den Christen. Nach der durch ») Vergl. die Einleitung zu dem Nankeschen Gutachten bei Sybel a. a. O, S, 411. Grenzboten l. 1830. 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/201>, abgerufen am 03.07.2024.