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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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die christlichen Unterthanen der Pforte betrachtet werden, nur daß auch er freilich
niemals recht zur Ausführung gekommen ist. Wäre er durchführbar gewesen,
so wären die berechtigten Forderungen der europäischen Mächte im wesentlichen
erfüllt gewesen; die convulsivischen Zuckungen, die seit 1856 die Pforte ihrem
Untergange immer näher gebracht haben, wären nicht nöthig gewesen. Aber
die Grundsätze, von denen er ausgeht, sind zu idealer Natur; sie berücksichtigen
zu wenig die realen Verhältnisse und die wirklichen Bedürfnisse. Man darf
nun einmal den osmanischen Staat nicht mit dem Maßstabe der europäischen
Culturstaaten messen; europäische Civilisation liegt den osmanischen Einwohnern
des türkischen Reiches eben so fern wie bis vor kurzer Zeit deu christlichen selbst.

Wenn es bisher der oberste Grundsatz der türkischen Regierung gewesen
war, daß zu jeder Theilnahme an der Staatsregierung, namentlich zur Beklei¬
dung von Staatsämtern und öffentlichen Ehrenstellen, mir die Osmanen berech¬
tigt feien, und dies Princip nun durch den Hat-Humayun umgestoßen und
auch den Christen der Zugang zu deu Aemtern eröffnet wurde, so war von
vornherein vorauszusehen, daß dies, wie schon wiederholt, an dem Widerstande
der osmanischen Bevölkerung scheitern werde: der Türke hätte es als eine Be¬
leidigung seiner geheiligten Religion angesehen, wenn einem Giaur eine politische
Machtstellung eingeräumt worden wäre, oder wenn er sich in seinen Rechts¬
streitigkeiten dem Urtheil eines Christen hätte unterwerfe" sollen. Gemischte
Gerichtshöfe für Streitigkeiten zwischen Christen und Türken sind zwar ver¬
heißen worden, sie sind auch in Folge des Hat-Humayun wirklich constituirt
worden, aber niemals zur Anwendung gekommen. Ist der Geist religiöser Duld¬
samkeit für alle Völker überhaupt schwer zu erreichen und nie mit Gewalt in
dieselben hineinzubringen, so ist dies bei dem seiner Natur nach zum Fanatismus
und zur Intoleranz hinneigenden Islam doppelt schwer. Hat doch auch die
christliche Kirche Jahrhunderte gebraucht, ehe sie sich zu diesem erhabenen Stand¬
punkte der Duldung aufzuschwingen vermochte, sind doch in unserem eigenen
Vaterlande von Deutschen gegen Deutsche bis in das 17. Jahrhundert hinein
der Religion wegen blutige Kriege, vielleicht die blutigsten von allen, geführt
worden. Wie sollten wir vom Islam mehr Toleranz erwarten als von der
doch sonst so weit vorgeschrittenen christlichen Kirche des 17. Jahrhunderts?
Auch hier gilt es für den Historiker, Gerechtigkeit zu üben,'die traurige Wahr¬
heit zwar klar erkennbar darzustellen, aber auch auf ihre inneren Ursachen und
auf ihre Analogien in der übrigen Weltgeschichte hinzuweisen.

Wenn nun diese Verordnung an dem Widerstande der Osmanen scheiterte,
so fand die weitere Bestimmung, daß die allgemeine Wehrpflicht, allerdings mit
der Berechtigung zum Stellvertreterkauf, auch auf die Christen Anwendung
finden sollte, bei den Christen selbst ebenso energischen Widerstand wie bei den


die christlichen Unterthanen der Pforte betrachtet werden, nur daß auch er freilich
niemals recht zur Ausführung gekommen ist. Wäre er durchführbar gewesen,
so wären die berechtigten Forderungen der europäischen Mächte im wesentlichen
erfüllt gewesen; die convulsivischen Zuckungen, die seit 1856 die Pforte ihrem
Untergange immer näher gebracht haben, wären nicht nöthig gewesen. Aber
die Grundsätze, von denen er ausgeht, sind zu idealer Natur; sie berücksichtigen
zu wenig die realen Verhältnisse und die wirklichen Bedürfnisse. Man darf
nun einmal den osmanischen Staat nicht mit dem Maßstabe der europäischen
Culturstaaten messen; europäische Civilisation liegt den osmanischen Einwohnern
des türkischen Reiches eben so fern wie bis vor kurzer Zeit deu christlichen selbst.

Wenn es bisher der oberste Grundsatz der türkischen Regierung gewesen
war, daß zu jeder Theilnahme an der Staatsregierung, namentlich zur Beklei¬
dung von Staatsämtern und öffentlichen Ehrenstellen, mir die Osmanen berech¬
tigt feien, und dies Princip nun durch den Hat-Humayun umgestoßen und
auch den Christen der Zugang zu deu Aemtern eröffnet wurde, so war von
vornherein vorauszusehen, daß dies, wie schon wiederholt, an dem Widerstande
der osmanischen Bevölkerung scheitern werde: der Türke hätte es als eine Be¬
leidigung seiner geheiligten Religion angesehen, wenn einem Giaur eine politische
Machtstellung eingeräumt worden wäre, oder wenn er sich in seinen Rechts¬
streitigkeiten dem Urtheil eines Christen hätte unterwerfe« sollen. Gemischte
Gerichtshöfe für Streitigkeiten zwischen Christen und Türken sind zwar ver¬
heißen worden, sie sind auch in Folge des Hat-Humayun wirklich constituirt
worden, aber niemals zur Anwendung gekommen. Ist der Geist religiöser Duld¬
samkeit für alle Völker überhaupt schwer zu erreichen und nie mit Gewalt in
dieselben hineinzubringen, so ist dies bei dem seiner Natur nach zum Fanatismus
und zur Intoleranz hinneigenden Islam doppelt schwer. Hat doch auch die
christliche Kirche Jahrhunderte gebraucht, ehe sie sich zu diesem erhabenen Stand¬
punkte der Duldung aufzuschwingen vermochte, sind doch in unserem eigenen
Vaterlande von Deutschen gegen Deutsche bis in das 17. Jahrhundert hinein
der Religion wegen blutige Kriege, vielleicht die blutigsten von allen, geführt
worden. Wie sollten wir vom Islam mehr Toleranz erwarten als von der
doch sonst so weit vorgeschrittenen christlichen Kirche des 17. Jahrhunderts?
Auch hier gilt es für den Historiker, Gerechtigkeit zu üben,'die traurige Wahr¬
heit zwar klar erkennbar darzustellen, aber auch auf ihre inneren Ursachen und
auf ihre Analogien in der übrigen Weltgeschichte hinzuweisen.

Wenn nun diese Verordnung an dem Widerstande der Osmanen scheiterte,
so fand die weitere Bestimmung, daß die allgemeine Wehrpflicht, allerdings mit
der Berechtigung zum Stellvertreterkauf, auch auf die Christen Anwendung
finden sollte, bei den Christen selbst ebenso energischen Widerstand wie bei den


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[0147] die christlichen Unterthanen der Pforte betrachtet werden, nur daß auch er freilich niemals recht zur Ausführung gekommen ist. Wäre er durchführbar gewesen, so wären die berechtigten Forderungen der europäischen Mächte im wesentlichen erfüllt gewesen; die convulsivischen Zuckungen, die seit 1856 die Pforte ihrem Untergange immer näher gebracht haben, wären nicht nöthig gewesen. Aber die Grundsätze, von denen er ausgeht, sind zu idealer Natur; sie berücksichtigen zu wenig die realen Verhältnisse und die wirklichen Bedürfnisse. Man darf nun einmal den osmanischen Staat nicht mit dem Maßstabe der europäischen Culturstaaten messen; europäische Civilisation liegt den osmanischen Einwohnern des türkischen Reiches eben so fern wie bis vor kurzer Zeit deu christlichen selbst. Wenn es bisher der oberste Grundsatz der türkischen Regierung gewesen war, daß zu jeder Theilnahme an der Staatsregierung, namentlich zur Beklei¬ dung von Staatsämtern und öffentlichen Ehrenstellen, mir die Osmanen berech¬ tigt feien, und dies Princip nun durch den Hat-Humayun umgestoßen und auch den Christen der Zugang zu deu Aemtern eröffnet wurde, so war von vornherein vorauszusehen, daß dies, wie schon wiederholt, an dem Widerstande der osmanischen Bevölkerung scheitern werde: der Türke hätte es als eine Be¬ leidigung seiner geheiligten Religion angesehen, wenn einem Giaur eine politische Machtstellung eingeräumt worden wäre, oder wenn er sich in seinen Rechts¬ streitigkeiten dem Urtheil eines Christen hätte unterwerfe« sollen. Gemischte Gerichtshöfe für Streitigkeiten zwischen Christen und Türken sind zwar ver¬ heißen worden, sie sind auch in Folge des Hat-Humayun wirklich constituirt worden, aber niemals zur Anwendung gekommen. Ist der Geist religiöser Duld¬ samkeit für alle Völker überhaupt schwer zu erreichen und nie mit Gewalt in dieselben hineinzubringen, so ist dies bei dem seiner Natur nach zum Fanatismus und zur Intoleranz hinneigenden Islam doppelt schwer. Hat doch auch die christliche Kirche Jahrhunderte gebraucht, ehe sie sich zu diesem erhabenen Stand¬ punkte der Duldung aufzuschwingen vermochte, sind doch in unserem eigenen Vaterlande von Deutschen gegen Deutsche bis in das 17. Jahrhundert hinein der Religion wegen blutige Kriege, vielleicht die blutigsten von allen, geführt worden. Wie sollten wir vom Islam mehr Toleranz erwarten als von der doch sonst so weit vorgeschrittenen christlichen Kirche des 17. Jahrhunderts? Auch hier gilt es für den Historiker, Gerechtigkeit zu üben,'die traurige Wahr¬ heit zwar klar erkennbar darzustellen, aber auch auf ihre inneren Ursachen und auf ihre Analogien in der übrigen Weltgeschichte hinzuweisen. Wenn nun diese Verordnung an dem Widerstande der Osmanen scheiterte, so fand die weitere Bestimmung, daß die allgemeine Wehrpflicht, allerdings mit der Berechtigung zum Stellvertreterkauf, auch auf die Christen Anwendung finden sollte, bei den Christen selbst ebenso energischen Widerstand wie bei den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/147>, abgerufen am 22.07.2024.