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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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fähr zu derselben Zeit bekam die cisleithcmische Reichshälfte ein anderes Mini¬
sterium, welches die Versöhnung der Nationalitäten auf sein Programm ge¬
schrieben hatte, und zugleich durch Neuwahlen eine conservativere Volksvertretung.
In den letzten Wochen beherrschte die Wehrfrage die Situation. Die Regierung
verlangte im Hinblick auf den Ernst der Zeit und die Nothwendigkeit, sich in
militärischer Hinsicht bündnißfähig zu erhalten, Bewilligung des gegenwärtigen
Heeresbestandes von 800000 Mann Kriegsstärke für weitere zehn Jahre, wozu
es einer Majorität von zwei Dritteln der Stimmen des Abgeordnetenhauses
bedürfte, und die Liberalen verhinderten durch ihr Votum in erster, dann, ob¬
wohl sich inzwischen der Kaiser selbst der Sache angenommen, auch in zweiter
Lesung das Zustandekommen jener Majorität, wogegen das Herrenhaus die
Vorlage der Regierung sast einstimmig annahm. Fährt -- so mußte man sich
in diesem Stadium der Dinge sagen - die Verfassungspartei bei weiterer Be¬
handlung des Planes in ihrer Opposition fort, so wird dem Ministerium Taaffe
in Anbetracht der Thatsache, daß nicht bloß das Herrenhaus Cisleithcmiens, son¬
dern auch der ungarische Reichstag der Regierungsvorlage zugestimmt hat, kaum
ein anderer Ausweg übrig bleiben als die Auflösung des Abgeordnetenhauses,
und für diesen Fall ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Land die obstinate
Haltung der Liberalen gegenüber der Wehrvorlage ebenso wenig billigt, als es
deren Benehmen in Bezug auf die Frage wegen der Besitznahme Bosniens
und der Herzegowina gutgeheißen hat, und daß in Folge dessen die doktrinäre
Clique, die sich Verfassungspartei nennt, bei den Neuwahlen wiederum eine er¬
hebliche Anzahl von Mandaten einbüßt. Glücklicherweise ist es nicht dazu ge¬
kommen, indem kurz vor den Weihnachtsferien, nachdem das Herrenhaus die
Regierungsvorlage nochmals gutgeheißen und die aus Mitgliedern beider Häuser
zusammengesetzte Konferenz die Annahme derselben empfohlen hatte, die Regie¬
rung auch im Abgeordnetenhause das gewünschte Entgegenkommen fand.

> Erfreulicher als jener Unfriede zwischen den Factoren der österreichischen Ge¬
setzgebung berührte die kurz vor Jahresschluß bekannt werdende Nachricht, daß
man sich österreichischerseits mit Rücksicht aus die kriegerischen Zustände auf der
Westküste Südamerikas an die deutsche Regierung gewendet und dieselbe ersucht
habe, den diplomatischen Vertretern des deutschen Reiches in Chile und Peru
und den Befehlshabern der in die dortigen Gewässer entsendeten deutschen Kriegs¬
schiffe den Auftrag zu ertheilen, für den Fall, daß die dortigen Consuln Oester¬
reich-Ungarns in die Lage kommen sollten, deren Schutz für die ihrer Fürsorge
Anvertrauten in Anspruch zN nehmen, denselben nach Maßgabe der Umstände
zu gewähren. Diesem Wunsche ist in Berlin bereitwillig und unverweilt ent¬
sprochen worden, und so haben wir den ersten thatsächlichen Beweis für die
freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den beiden Mächten bestehen, und


fähr zu derselben Zeit bekam die cisleithcmische Reichshälfte ein anderes Mini¬
sterium, welches die Versöhnung der Nationalitäten auf sein Programm ge¬
schrieben hatte, und zugleich durch Neuwahlen eine conservativere Volksvertretung.
In den letzten Wochen beherrschte die Wehrfrage die Situation. Die Regierung
verlangte im Hinblick auf den Ernst der Zeit und die Nothwendigkeit, sich in
militärischer Hinsicht bündnißfähig zu erhalten, Bewilligung des gegenwärtigen
Heeresbestandes von 800000 Mann Kriegsstärke für weitere zehn Jahre, wozu
es einer Majorität von zwei Dritteln der Stimmen des Abgeordnetenhauses
bedürfte, und die Liberalen verhinderten durch ihr Votum in erster, dann, ob¬
wohl sich inzwischen der Kaiser selbst der Sache angenommen, auch in zweiter
Lesung das Zustandekommen jener Majorität, wogegen das Herrenhaus die
Vorlage der Regierung sast einstimmig annahm. Fährt — so mußte man sich
in diesem Stadium der Dinge sagen - die Verfassungspartei bei weiterer Be¬
handlung des Planes in ihrer Opposition fort, so wird dem Ministerium Taaffe
in Anbetracht der Thatsache, daß nicht bloß das Herrenhaus Cisleithcmiens, son¬
dern auch der ungarische Reichstag der Regierungsvorlage zugestimmt hat, kaum
ein anderer Ausweg übrig bleiben als die Auflösung des Abgeordnetenhauses,
und für diesen Fall ist es nicht unwahrscheinlich, daß das Land die obstinate
Haltung der Liberalen gegenüber der Wehrvorlage ebenso wenig billigt, als es
deren Benehmen in Bezug auf die Frage wegen der Besitznahme Bosniens
und der Herzegowina gutgeheißen hat, und daß in Folge dessen die doktrinäre
Clique, die sich Verfassungspartei nennt, bei den Neuwahlen wiederum eine er¬
hebliche Anzahl von Mandaten einbüßt. Glücklicherweise ist es nicht dazu ge¬
kommen, indem kurz vor den Weihnachtsferien, nachdem das Herrenhaus die
Regierungsvorlage nochmals gutgeheißen und die aus Mitgliedern beider Häuser
zusammengesetzte Konferenz die Annahme derselben empfohlen hatte, die Regie¬
rung auch im Abgeordnetenhause das gewünschte Entgegenkommen fand.

> Erfreulicher als jener Unfriede zwischen den Factoren der österreichischen Ge¬
setzgebung berührte die kurz vor Jahresschluß bekannt werdende Nachricht, daß
man sich österreichischerseits mit Rücksicht aus die kriegerischen Zustände auf der
Westküste Südamerikas an die deutsche Regierung gewendet und dieselbe ersucht
habe, den diplomatischen Vertretern des deutschen Reiches in Chile und Peru
und den Befehlshabern der in die dortigen Gewässer entsendeten deutschen Kriegs¬
schiffe den Auftrag zu ertheilen, für den Fall, daß die dortigen Consuln Oester¬
reich-Ungarns in die Lage kommen sollten, deren Schutz für die ihrer Fürsorge
Anvertrauten in Anspruch zN nehmen, denselben nach Maßgabe der Umstände
zu gewähren. Diesem Wunsche ist in Berlin bereitwillig und unverweilt ent¬
sprochen worden, und so haben wir den ersten thatsächlichen Beweis für die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/14>, abgerufen am 03.07.2024.