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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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um menschlich faßbar zu werden, sei es als staatliches Allgemeinwohl, sei es
als herrschende Sitte und Anschauungsweise, während wir die Berechtigung des
Einzelnen, der dem Allgemeiugiltigen gegenübertritt, am liebsten in dem Charakter
suchen, der aber doch auch nur das individuell gewordene Fatum ist. Ergiebt
sich nun aus solchen Grundbedingungen ein tragisches Verhältniß, so liegt in
der durch den einzelnen Fall gegebenen bestätigenden Erkenntniß des tragischen
Grundcharakters unserer Existenz ein versöhnendes Element, welches dadurch
entsteht, daß das Einzelschicksal naturgemäß in das Gesmmntschicksal einmündet
und auf nichts Besseres Anspruch erheben darf als dieses selbst. Was aber dem
Einzelnen in Uebereinstimmung mit dem Ganzen geschieht, läßt für ihn den
besonderen Schmerz in dem das Ganze erfassender aufgehen. So bleibt, bei
richtiger tragischer Grundlage, die tragische Empfindung ohne Bitterkeit, und die
absichtlich angeregte Schmerzempfindung hat die gewünschte Folge, das durch
die Befreiung vom Schmerz eintretende Wohlgefühl.

Das Wesen der Tragik liegt hiernach in der Berechtigung des Individuums
zum Handeln, nicht aber in seiner Schuld. Von einer solchen kann nur inso¬
fern die Rede sein, als die zur Tragik führende Handlung über die Grenze
hinausgeht, welche vermittelnde Klugheit, Kompromiß suchende Mäßigung vor¬
schreibt, welche aber dem scharf ausgeprägten Charakter der Individualität ein¬
zuhalten unmöglich ist. Liegt für das Ueberschreiten der Grenze keine Berechti¬
gung im Charakter und zwar in einer an und für sich zu billigenden oder doch
nicht zu verwerfenden Seite des Charakters, so wird die Schuld zum Verbrechen,
und die Tragik hört auf. Die "tragische Schuld" ist daher ein verwirrender
Ausdruck, und er hat auch Verwirrung genug angerichtet. Er macht die "Seene
zum Tribunal", die Tragödie zur Criminaljustiz und obendrein zu einer höchst
ungerechten. Denn zum Wesen des Tragischen gehört, daß das Leiden, welches
eine Folge des Ueberschreitens der durch Sitte, Herkommen, Klugheit, Gesetz
gegebenen Grenze ist, nicht im Verhältniß zu der Größe des gethanen Unrechtes
stehe, daß es vielmehr weit über das Maß einer vernunftgemäß zu ertheilenden
Strafe hinausgehe, wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, wäh¬
rend umgekehrt die Strafe, welche die zur Ueberschreitung der Maßhaltung ver¬
leitende Bosheit erhält, weit unter dem bleibt, was die vergeltende Gerechtigkeit
verlangen müßte. Träte an Stelle dieses Mißverhältnisses, welches gerade die
Quelle unseres tragischen Mitleides ist, das der Vernunft entsprechende richtige
Verhältniß von Ueberschreitung und Strafe, so wäre zwar unser Verstand be¬
friedigt, unsere Erregung und Empörung beruhigt, aber von einer ästhetischen
Empfindung wäre keine Rede mehr, geschweige denn von einer tragischen. Wenn
daher der Versuch gemacht wird, einen Crinnnalfall ästhetisch zu verwerthen, so
ist neben der vielleicht erreichten Befriedigung dnrch die Beschäftigung des Ver-


Grenzboten II. 188". 11

um menschlich faßbar zu werden, sei es als staatliches Allgemeinwohl, sei es
als herrschende Sitte und Anschauungsweise, während wir die Berechtigung des
Einzelnen, der dem Allgemeiugiltigen gegenübertritt, am liebsten in dem Charakter
suchen, der aber doch auch nur das individuell gewordene Fatum ist. Ergiebt
sich nun aus solchen Grundbedingungen ein tragisches Verhältniß, so liegt in
der durch den einzelnen Fall gegebenen bestätigenden Erkenntniß des tragischen
Grundcharakters unserer Existenz ein versöhnendes Element, welches dadurch
entsteht, daß das Einzelschicksal naturgemäß in das Gesmmntschicksal einmündet
und auf nichts Besseres Anspruch erheben darf als dieses selbst. Was aber dem
Einzelnen in Uebereinstimmung mit dem Ganzen geschieht, läßt für ihn den
besonderen Schmerz in dem das Ganze erfassender aufgehen. So bleibt, bei
richtiger tragischer Grundlage, die tragische Empfindung ohne Bitterkeit, und die
absichtlich angeregte Schmerzempfindung hat die gewünschte Folge, das durch
die Befreiung vom Schmerz eintretende Wohlgefühl.

Das Wesen der Tragik liegt hiernach in der Berechtigung des Individuums
zum Handeln, nicht aber in seiner Schuld. Von einer solchen kann nur inso¬
fern die Rede sein, als die zur Tragik führende Handlung über die Grenze
hinausgeht, welche vermittelnde Klugheit, Kompromiß suchende Mäßigung vor¬
schreibt, welche aber dem scharf ausgeprägten Charakter der Individualität ein¬
zuhalten unmöglich ist. Liegt für das Ueberschreiten der Grenze keine Berechti¬
gung im Charakter und zwar in einer an und für sich zu billigenden oder doch
nicht zu verwerfenden Seite des Charakters, so wird die Schuld zum Verbrechen,
und die Tragik hört auf. Die „tragische Schuld" ist daher ein verwirrender
Ausdruck, und er hat auch Verwirrung genug angerichtet. Er macht die „Seene
zum Tribunal", die Tragödie zur Criminaljustiz und obendrein zu einer höchst
ungerechten. Denn zum Wesen des Tragischen gehört, daß das Leiden, welches
eine Folge des Ueberschreitens der durch Sitte, Herkommen, Klugheit, Gesetz
gegebenen Grenze ist, nicht im Verhältniß zu der Größe des gethanen Unrechtes
stehe, daß es vielmehr weit über das Maß einer vernunftgemäß zu ertheilenden
Strafe hinausgehe, wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, wäh¬
rend umgekehrt die Strafe, welche die zur Ueberschreitung der Maßhaltung ver¬
leitende Bosheit erhält, weit unter dem bleibt, was die vergeltende Gerechtigkeit
verlangen müßte. Träte an Stelle dieses Mißverhältnisses, welches gerade die
Quelle unseres tragischen Mitleides ist, das der Vernunft entsprechende richtige
Verhältniß von Ueberschreitung und Strafe, so wäre zwar unser Verstand be¬
friedigt, unsere Erregung und Empörung beruhigt, aber von einer ästhetischen
Empfindung wäre keine Rede mehr, geschweige denn von einer tragischen. Wenn
daher der Versuch gemacht wird, einen Crinnnalfall ästhetisch zu verwerthen, so
ist neben der vielleicht erreichten Befriedigung dnrch die Beschäftigung des Ver-


Grenzboten II. 188«. 11
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/85>, abgerufen am 22.07.2024.