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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Folge hat, an und für sich betrachtet, gleichfalls berechtigt ist, wodurch das
Leiden als ein zwar schmerzliches, aber nothwendiges und in feinen Gründen
tiefer liegendes erscheint; nur ein solches Leiden aber vermag in uns ein Mit¬
leiden zu erregen, ohne Bitterkeit zu hinterlassen, welche die beabsichtigte Wirkung
des aus der Schmerzbefreiung entstehenden Wohlgefühls nicht aufkommen ließe.
Die Empfindung aber, welche in uns durch ein vorgestelltes seelisches Leiden
erweckt wird, das bei an und für sich berechtigtem Handeln durch ein anderes
an und für sich gleichfalls berechtigtes Handeln entsteht, ist die tragische.

Dadurch, daß nicht nur eine Seite, sondern beide Seiten, jede innerhalb
ihrer Sphäre, berechtigt zu ihrem Handeln sind, diese beiden Sphären selbst
aber in ihren Consequenzen einander ausschließen, wird der daraus entstehende
Kampf der Willkür und dem Zufall enthoben und auf allgemeine Verhältnisse
zurückgeführt: er gewinnt typische Bedeutung und verliert den dem Zufälligen
anklebenden Widersinn. Unsere ganze Existenz innerhalb der Welt beruht auf
unserer Individualität; eine jede derselben hat durch ihre Eigenart Anspruch
auf Geltendmachung eben dieser Eigenart, auf der ihr Wesen beruht. Will das
jede Individualität thun, so kommt sie unfehlbar mit anderen in Conflict, da
die Wirkungskreise ineinander übergreifen. Bei Vernunft und gutem Willen
läßt sich wohl ein sanstes Aneinandervorbeigleiten der Kreise erreichen, so lange
im Wesen der in Betracht kommenden Individualitäten Nachgiebigkeit begründet
liegt, und mit diesem Nachgeben nicht ein Aufgeben der Individualität verbunden
ist. Tritt dieses aber ein und ist die Individualität mit dem mächtigen Antrieb
der Geltendmachung ihres Wesens ausgestattet, so ist der Zusammenstoß un¬
ausbleiblich. Handelt es sich um wesentliche Fragen, so ist es ein Zusammen¬
stoß auf Leben und Tod, der, sobald wir eine Berechtigung beiderseits aner¬
kennen, in uns die tragische Empfindung wachruft. Es wird dabei derjenige
Theil unterliegen, der nichts als das Recht seiner Individualität vertritt; der
Theil aber wird siegen, der in seiner Individualität außer seinem persönlichen
Rechte ein allgemeingiltiges vertritt, wobei die Thatsache genügt, daß dieses
Recht allgemeingiltiger Art ist, daß auf seiner Aufrechterhaltung die Fortexistenz
des allgemeinen, zu Recht bestehenden Zustandes beruht, ohne daß die sittliche
Berechtigung des als allgemeingiltig Anerkannten in Betracht kommt. Ist dies
der Fall, so wird dies Moment als schmerzbefreiendes bei dem Untergange mit¬
wirken; ist es nicht der Fall, so muß es eine Bitterkeit der Empfindung erregen,
welche außerhalb der ästhetischen Absicht liegt und diese schädigt. Dieses Allgc-
meingiltige kann unter sehr verschiedenen Gestalten auftreten. Bei den Griechen
sehen wir es als das allwaltende Fatum. Wir lassen ein solches unmittelbar
ins Leben eingreifende, in seinen Gründen nicht zu verfolgende Ueberirdische
nicht mehr gern als ästhetisches Motiv gelten. Es muß sich gleichsam verkörpern,


Folge hat, an und für sich betrachtet, gleichfalls berechtigt ist, wodurch das
Leiden als ein zwar schmerzliches, aber nothwendiges und in feinen Gründen
tiefer liegendes erscheint; nur ein solches Leiden aber vermag in uns ein Mit¬
leiden zu erregen, ohne Bitterkeit zu hinterlassen, welche die beabsichtigte Wirkung
des aus der Schmerzbefreiung entstehenden Wohlgefühls nicht aufkommen ließe.
Die Empfindung aber, welche in uns durch ein vorgestelltes seelisches Leiden
erweckt wird, das bei an und für sich berechtigtem Handeln durch ein anderes
an und für sich gleichfalls berechtigtes Handeln entsteht, ist die tragische.

Dadurch, daß nicht nur eine Seite, sondern beide Seiten, jede innerhalb
ihrer Sphäre, berechtigt zu ihrem Handeln sind, diese beiden Sphären selbst
aber in ihren Consequenzen einander ausschließen, wird der daraus entstehende
Kampf der Willkür und dem Zufall enthoben und auf allgemeine Verhältnisse
zurückgeführt: er gewinnt typische Bedeutung und verliert den dem Zufälligen
anklebenden Widersinn. Unsere ganze Existenz innerhalb der Welt beruht auf
unserer Individualität; eine jede derselben hat durch ihre Eigenart Anspruch
auf Geltendmachung eben dieser Eigenart, auf der ihr Wesen beruht. Will das
jede Individualität thun, so kommt sie unfehlbar mit anderen in Conflict, da
die Wirkungskreise ineinander übergreifen. Bei Vernunft und gutem Willen
läßt sich wohl ein sanstes Aneinandervorbeigleiten der Kreise erreichen, so lange
im Wesen der in Betracht kommenden Individualitäten Nachgiebigkeit begründet
liegt, und mit diesem Nachgeben nicht ein Aufgeben der Individualität verbunden
ist. Tritt dieses aber ein und ist die Individualität mit dem mächtigen Antrieb
der Geltendmachung ihres Wesens ausgestattet, so ist der Zusammenstoß un¬
ausbleiblich. Handelt es sich um wesentliche Fragen, so ist es ein Zusammen¬
stoß auf Leben und Tod, der, sobald wir eine Berechtigung beiderseits aner¬
kennen, in uns die tragische Empfindung wachruft. Es wird dabei derjenige
Theil unterliegen, der nichts als das Recht seiner Individualität vertritt; der
Theil aber wird siegen, der in seiner Individualität außer seinem persönlichen
Rechte ein allgemeingiltiges vertritt, wobei die Thatsache genügt, daß dieses
Recht allgemeingiltiger Art ist, daß auf seiner Aufrechterhaltung die Fortexistenz
des allgemeinen, zu Recht bestehenden Zustandes beruht, ohne daß die sittliche
Berechtigung des als allgemeingiltig Anerkannten in Betracht kommt. Ist dies
der Fall, so wird dies Moment als schmerzbefreiendes bei dem Untergange mit¬
wirken; ist es nicht der Fall, so muß es eine Bitterkeit der Empfindung erregen,
welche außerhalb der ästhetischen Absicht liegt und diese schädigt. Dieses Allgc-
meingiltige kann unter sehr verschiedenen Gestalten auftreten. Bei den Griechen
sehen wir es als das allwaltende Fatum. Wir lassen ein solches unmittelbar
ins Leben eingreifende, in seinen Gründen nicht zu verfolgende Ueberirdische
nicht mehr gern als ästhetisches Motiv gelten. Es muß sich gleichsam verkörpern,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/84>, abgerufen am 22.07.2024.