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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Stück von der mittleren Mazze ab und legt es neben sich, worauf er mit erhobenem
Teller die chaldäische Formel abhinge: "Dieß ist das Brod des Elends, das unsere
Voreltern im Lande Mizrajim gegessen haben. Wer hungrig ist, der komme, mit-
zuspeisen, wer bedürftig ist, freue sich mit uns. Dieses Jahr noch hier, aber künf¬
tiges Jahr im Lande Israels. Heuer noch Knechte, über's Jahr Freie." Das
jüngste Glied der Familie fragt dann nach der Bedeutung von alledem, und die
Anniesenden antworten ihm, aus dem Buche "Agade" singend, mit allerlei Erzäh¬
lungen, in welche Loblieder und Streitfragen eingeflochten sind. Dazwischen wird
mehrmals aus den inzwischen vollgeschenkten Bechern genippt und bei Aufzählung
von jeder der bekannten zehn Plagen mit dem kleinen Finger ein Tropfen von dem
Weine fortgespritzt. Daraus wäscht man sich nochmals die Hände. Der Hausvater
vertheilt Stücke von dem ungesäuerten Brote, dann Grünes, das er in die Mischung
getaucht hat, welche den ägyptischen Lehm symbolisirt, und zuletzt kleine Brocken
Mazze mit Meerrettig belegt, Alles unter den vorgeschriebenen Segenssprüchen.
Endlich wird das eigentliche Essen eingenommen, worauf "gebenscht", d. h. das
Tischgebet gesprochen wird. Dann folgt der kurze dritte Act, indem man die Becher
von Neuem füllt und ein besonderes großes Glas für den Propheten Elias, den
guten Genius des Volkes Israel, hinstellt, dem eins von den Kindern die Thür
zum Eintritt öffnen muß. Zum Schluß wird abermals die "Agada" zur Hand
genommen und allerhand Ernstes und Burleskes vorgetragen: ein Sphärengesang,
ein Wunsch nach Wiederaufrichtung des alten Judenreiches, das Lob der Zahlen
von eins bis dreizehn und zuletzt der alte Märchenspruch, das Seitenstück zum Jokei,
den die Mutter ausschickt: "Ein Zicklein, ein Zicklein hat gekauft das Väterleiu
um zwei Pfenniglein. Da kam das Kätzlein und aß das Zicklein, das da hat
gekauft mein Väterlein um zwei Pfenniglein. Da kam das Hündlein und biß das
Kätzlein, das hat gegessen das Zicklein, das da hat gekauft mein Bäterlein um zwei
Pfenniglein." Und so geht es fort: das Stöcklein schlägt das Hündlein, das
Feuerlein brennt das Stöcklein, das Wässerlein löscht das Feuerlein, das Oechslem
säuft das Wässerlein, der Metzger Schachtel das Oechslem, der Todesengel holt den
Metzger, und zuletzt kommt der "gesegnete Heilige", der liebe Gott, und tödtet
den Todesengel. Der Verlauf der ganzen Feier erinnert an manche Heineschen
Verse: erst poetische Stimmung und Empfindung, zum Schluß eine Posse.




Stück von der mittleren Mazze ab und legt es neben sich, worauf er mit erhobenem
Teller die chaldäische Formel abhinge: „Dieß ist das Brod des Elends, das unsere
Voreltern im Lande Mizrajim gegessen haben. Wer hungrig ist, der komme, mit-
zuspeisen, wer bedürftig ist, freue sich mit uns. Dieses Jahr noch hier, aber künf¬
tiges Jahr im Lande Israels. Heuer noch Knechte, über's Jahr Freie." Das
jüngste Glied der Familie fragt dann nach der Bedeutung von alledem, und die
Anniesenden antworten ihm, aus dem Buche „Agade" singend, mit allerlei Erzäh¬
lungen, in welche Loblieder und Streitfragen eingeflochten sind. Dazwischen wird
mehrmals aus den inzwischen vollgeschenkten Bechern genippt und bei Aufzählung
von jeder der bekannten zehn Plagen mit dem kleinen Finger ein Tropfen von dem
Weine fortgespritzt. Daraus wäscht man sich nochmals die Hände. Der Hausvater
vertheilt Stücke von dem ungesäuerten Brote, dann Grünes, das er in die Mischung
getaucht hat, welche den ägyptischen Lehm symbolisirt, und zuletzt kleine Brocken
Mazze mit Meerrettig belegt, Alles unter den vorgeschriebenen Segenssprüchen.
Endlich wird das eigentliche Essen eingenommen, worauf „gebenscht", d. h. das
Tischgebet gesprochen wird. Dann folgt der kurze dritte Act, indem man die Becher
von Neuem füllt und ein besonderes großes Glas für den Propheten Elias, den
guten Genius des Volkes Israel, hinstellt, dem eins von den Kindern die Thür
zum Eintritt öffnen muß. Zum Schluß wird abermals die „Agada" zur Hand
genommen und allerhand Ernstes und Burleskes vorgetragen: ein Sphärengesang,
ein Wunsch nach Wiederaufrichtung des alten Judenreiches, das Lob der Zahlen
von eins bis dreizehn und zuletzt der alte Märchenspruch, das Seitenstück zum Jokei,
den die Mutter ausschickt: „Ein Zicklein, ein Zicklein hat gekauft das Väterleiu
um zwei Pfenniglein. Da kam das Kätzlein und aß das Zicklein, das da hat
gekauft mein Väterlein um zwei Pfenniglein. Da kam das Hündlein und biß das
Kätzlein, das hat gegessen das Zicklein, das da hat gekauft mein Bäterlein um zwei
Pfenniglein." Und so geht es fort: das Stöcklein schlägt das Hündlein, das
Feuerlein brennt das Stöcklein, das Wässerlein löscht das Feuerlein, das Oechslem
säuft das Wässerlein, der Metzger Schachtel das Oechslem, der Todesengel holt den
Metzger, und zuletzt kommt der „gesegnete Heilige", der liebe Gott, und tödtet
den Todesengel. Der Verlauf der ganzen Feier erinnert an manche Heineschen
Verse: erst poetische Stimmung und Empfindung, zum Schluß eine Posse.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/71>, abgerufen am 03.07.2024.