Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.gedachten Weise hersagen, da es die Kraft hat, die Hingeschiedenen Eltern aus der Wir schließen unsere heutigen Schilderungen des jüdischen Lebens jenseits der Am ersten Ostertage legt der Hausherr abends, wenn er aus der Synagoge Das Mahl beginnt damit, daß der Hausherr etwas von dem Grünzeug in gedachten Weise hersagen, da es die Kraft hat, die Hingeschiedenen Eltern aus der Wir schließen unsere heutigen Schilderungen des jüdischen Lebens jenseits der Am ersten Ostertage legt der Hausherr abends, wenn er aus der Synagoge Das Mahl beginnt damit, daß der Hausherr etwas von dem Grünzeug in <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146575"/> <p xml:id="ID_198" prev="#ID_197"> gedachten Weise hersagen, da es die Kraft hat, die Hingeschiedenen Eltern aus der<lb/> Vorhölle zu erlösen, in welcher jeder Sünder zwölf Monate brennen muß, oder sie<lb/> auch auf eine höhere Stufe im Paradiese hincmfzubeten. Für einen polnischen<lb/> Talmudjudeu giebt es keinen größeren Kummer als den, keinen Sohn zu haben,<lb/> der für ihn Kaddisch sagen kann. Indeß helfen sich Wohlhabende in solchem Falle<lb/> damit, daß sie eine Stiftung machen, mit deren Zinsen für den fehlenden Sohn<lb/> ein Stellvertreter gedungen wird. Man sieht, die Sitte ist ein Seitenstück zu den<lb/> katholischen Seelenmessen, über die sich unsere jüdischen Literaten also nicht lustig<lb/> zu machen brauchten, oder wenigstens nicht, ohne zu erwähnen, daß ihre Vettern<lb/> von der orthodoxen Sorte ähnlichen!, nur weniger erklärlichen Brauche huldigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_199"> Wir schließen unsere heutigen Schilderungen des jüdischen Lebens jenseits der<lb/> russischen Grenze zunächst, um die Spitzfindigkeit des Talmud weiter zu zeigen,<lb/> dann, um auch gewissen poetischen Zügen in demselben gerecht zu werden, mit einem<lb/> kurzen Blicke auf die Osterfeier der dortigen Talmudjuden. Am „großen Sonnabend"<lb/> (Schabbes haggadol), eine Woche vor jenem Feste wird in den Synagogen die<lb/> Geschichte des Auszugs aus Aegypten verlesen. Dann gehen die jüdischen Haus¬<lb/> haltungen an die Herstellung der „Mazzes", des bekannten ungesäuerten Brotes,<lb/> das in der Osterwoche allein genossen werden soll. Dabei wird äußerst rigoros<lb/> verfahren. Zunächst muß das Mehl zu diesen flachen Kuchen aus Getreide stammen,<lb/> das in trockner Zeit gemäht worden ist, denn Nässe könnte in den Körnern Säure<lb/> erzeugt haben. Der Teig darf ferner nicht aufgehen, sondern ist zugleich glatt zu<lb/> rollen. Alle irgendwie saueren Stoff enthaltende Dinge bis auf den kleinsten<lb/> Brocken oder Tropfen müssen aus dem Hause entfernt, was davon trocken, muß<lb/> verbrannt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_200"> Am ersten Ostertage legt der Hausherr abends, wenn er aus der Synagoge<lb/> heimkommt, während die Frau soviel als möglich Lichter anzündet, die Weißen<lb/> Sterbegewänder, die jeder rechtgläubige Jsraelit mit dem Hochzeitstage empfängt,<lb/> den Kittel mit dem Silber- oder golddurchwirkten Kragen, das Brokatkäppchen und<lb/> den Gürtel an, setzt sich mit den älteren Hausgenossen und den geladenen Armen,<lb/> nachdem alle sich die Hände gewaschen haben, an den gedeckte» und mit Speisen<lb/> und rothem Wein besetzten Tisch und spricht über den Wein den üblichen Segen.<lb/> Weiter befinden sich auf dem Tische ein El, das Symbol der Befreiung, ein Glas<lb/> mit Salzwasser, etwas Petersilie oder Salat, Meerrettig, „zur Erinnerung an die<lb/> Bedrängniß der ägyptischen Sclaverei," ein Gefäß mit einer Mischung aus Wein,<lb/> Nüssen, Zimmet und Apfelbrei, „eine symbolische Darstellung ^der Lehmarbeit im<lb/> Pharaonenlande," endlich ein halbgeröfteter Lammsknochen, der das ehemalige Oster-<lb/> opfer vertritt. Vor dem Hausherrn steht ein mit einer gestickten Decke verhüllter<lb/> Teller mit drei Mazzes.</p><lb/> <p xml:id="ID_201" next="#ID_202"> Das Mahl beginnt damit, daß der Hausherr etwas von dem Grünzeug in<lb/> das Salzwasser taucht und allen Tischgenossen davon reicht. Dann bricht er ein</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
gedachten Weise hersagen, da es die Kraft hat, die Hingeschiedenen Eltern aus der
Vorhölle zu erlösen, in welcher jeder Sünder zwölf Monate brennen muß, oder sie
auch auf eine höhere Stufe im Paradiese hincmfzubeten. Für einen polnischen
Talmudjudeu giebt es keinen größeren Kummer als den, keinen Sohn zu haben,
der für ihn Kaddisch sagen kann. Indeß helfen sich Wohlhabende in solchem Falle
damit, daß sie eine Stiftung machen, mit deren Zinsen für den fehlenden Sohn
ein Stellvertreter gedungen wird. Man sieht, die Sitte ist ein Seitenstück zu den
katholischen Seelenmessen, über die sich unsere jüdischen Literaten also nicht lustig
zu machen brauchten, oder wenigstens nicht, ohne zu erwähnen, daß ihre Vettern
von der orthodoxen Sorte ähnlichen!, nur weniger erklärlichen Brauche huldigen.
Wir schließen unsere heutigen Schilderungen des jüdischen Lebens jenseits der
russischen Grenze zunächst, um die Spitzfindigkeit des Talmud weiter zu zeigen,
dann, um auch gewissen poetischen Zügen in demselben gerecht zu werden, mit einem
kurzen Blicke auf die Osterfeier der dortigen Talmudjuden. Am „großen Sonnabend"
(Schabbes haggadol), eine Woche vor jenem Feste wird in den Synagogen die
Geschichte des Auszugs aus Aegypten verlesen. Dann gehen die jüdischen Haus¬
haltungen an die Herstellung der „Mazzes", des bekannten ungesäuerten Brotes,
das in der Osterwoche allein genossen werden soll. Dabei wird äußerst rigoros
verfahren. Zunächst muß das Mehl zu diesen flachen Kuchen aus Getreide stammen,
das in trockner Zeit gemäht worden ist, denn Nässe könnte in den Körnern Säure
erzeugt haben. Der Teig darf ferner nicht aufgehen, sondern ist zugleich glatt zu
rollen. Alle irgendwie saueren Stoff enthaltende Dinge bis auf den kleinsten
Brocken oder Tropfen müssen aus dem Hause entfernt, was davon trocken, muß
verbrannt werden.
Am ersten Ostertage legt der Hausherr abends, wenn er aus der Synagoge
heimkommt, während die Frau soviel als möglich Lichter anzündet, die Weißen
Sterbegewänder, die jeder rechtgläubige Jsraelit mit dem Hochzeitstage empfängt,
den Kittel mit dem Silber- oder golddurchwirkten Kragen, das Brokatkäppchen und
den Gürtel an, setzt sich mit den älteren Hausgenossen und den geladenen Armen,
nachdem alle sich die Hände gewaschen haben, an den gedeckte» und mit Speisen
und rothem Wein besetzten Tisch und spricht über den Wein den üblichen Segen.
Weiter befinden sich auf dem Tische ein El, das Symbol der Befreiung, ein Glas
mit Salzwasser, etwas Petersilie oder Salat, Meerrettig, „zur Erinnerung an die
Bedrängniß der ägyptischen Sclaverei," ein Gefäß mit einer Mischung aus Wein,
Nüssen, Zimmet und Apfelbrei, „eine symbolische Darstellung ^der Lehmarbeit im
Pharaonenlande," endlich ein halbgeröfteter Lammsknochen, der das ehemalige Oster-
opfer vertritt. Vor dem Hausherrn steht ein mit einer gestickten Decke verhüllter
Teller mit drei Mazzes.
Das Mahl beginnt damit, daß der Hausherr etwas von dem Grünzeug in
das Salzwasser taucht und allen Tischgenossen davon reicht. Dann bricht er ein
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |