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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Folge einer solchen Reise; denn selbst Synagogengeräthe und Thomrollm werden
verpfändet, um dem Heiligen einen würdigen Empfang bereiten zu können. Manche
haben dabei große Reichthümer zusammengerafft, und selbst das Grab eines be¬
rühmten Zadik bietet eine ergiebige Quelle von Einnahmen für dessen Hinterbliebene.
Desgleichen wird mit Reliquien und Amuleten ein schwunghafter Handel getrieben."

Wer eine Schnur von Chassidim in einem ihrer Centren besucht, "glaubt sich",
so behauptet Wiener, beiläufig ein Talmudjnde mit gelinder Reformjndengesinnung,
"unter tanzende Derwische und Fakire versetzt. Ich bereiste vor mehreren Jahren
die Chassidimgemeinden bei Ludim, um ihre selsamen Sitten in nächster Nähe
kennen zu lernen. An Ludim, das damals nicht weniger als vier chassidische Ober¬
häupter besaß, gruppirten sich uoch in kurzen Entfernungen mehrere solcher Ge¬
meinden, als Kozk, Worte, Abt, dann gegen die Grenzen Galiziens hin Joscfow
und Belschitz. Als ich im Wagen dahin fuhr -- es war am Freitage --, bemerkte
ich eine große Bewegung wie von einer allgemeinen Wanderung. Die Josefower
suchten zu Sonnabend den Nebbe der Belschitzer und diese wieder denjenigen der
ersteren auf. Im Josefow blieb ich den Sonnabend und wohnte dem Abendgottes¬
dienste in der Synagoge bei. Die ganze Gemeinde wartete bis zum Erscheinen
des Rebbe, der ungewöhnlich lange in der Badstube verweilte. Endlich betrat er
das Gotteshaus. Es war ein kleines dürres Männchen in blendend weißen Atlas
gekleidet und die unvermeidliche Zobelmütze, das eigentliche Abzeichen seiner Würde,
auf dem Haupte. Hinter ihm folgten, eine regelrechte Größensecila bildend, seine
acht Söhne im Alter voll ungefähr sechs bis sechzehn Jahren, die alle Zobelmützen
und lange schwarze Seidenkaftane trugen, was sich gar possierlich ausnahm. Als
es zum eigentlichen Sabbatsgcsange "Lechododi" kam*), klatschte der Rebbe mit den
Händen, verließ seinen Sitz und schritt, erst die acht Bürschchen, dann die ganze
Gemeinde hinter sich, durch den Saal, um in demselben Umzug zu halten. Wie
eine Schaar Besessener ahmte die Versammlung singend und mit den Händen klat¬
schend alle verzückten Geberden ihres bald aufspringenden, bald niederfallenden An¬
führers getreulich nach. Es bleibt ein unvergeßliches Schauspiel für mich."

Wir wenden uns nun zur Secte der Rabbcmim, der Talmudjuden in Polen,
oder wie Wiener sich ausdrückt, zum "orthodoxen Judenthume, der Grundsänle
und dem wahren Spiegelbilds des eigentlichen jüdischen Lebens", wobei wir in kurz
gefaßten Auszügen aus der Arbeit des genannten jüdischen Gewährsmannes das,
was uns hier angeht, referiren, seine häufig sehr erkennbare Schönfärberei aber
im Hinblick auf weniger günstige Berichte vermeiden.

Wird in der Familie eines polnischen Talmudjuden ein Kind geboren, so wird
der Mutter zunächst "Masel too" (Gut Glück) gewünscht und ihr ein Gebetbuch
aufs Bett gelegt, in welchem der 121. Psalm aufgeschlagen ist. Dann fordert
der Aberglaube sein Recht, und man bringt über dem Bette der Wöchnerin, über



*) Wir schreiben die hebräischen Worte hier und im Folgenden wie Wiener nach der
Aussprache der polnischen Juden.

Folge einer solchen Reise; denn selbst Synagogengeräthe und Thomrollm werden
verpfändet, um dem Heiligen einen würdigen Empfang bereiten zu können. Manche
haben dabei große Reichthümer zusammengerafft, und selbst das Grab eines be¬
rühmten Zadik bietet eine ergiebige Quelle von Einnahmen für dessen Hinterbliebene.
Desgleichen wird mit Reliquien und Amuleten ein schwunghafter Handel getrieben."

Wer eine Schnur von Chassidim in einem ihrer Centren besucht, „glaubt sich",
so behauptet Wiener, beiläufig ein Talmudjnde mit gelinder Reformjndengesinnung,
„unter tanzende Derwische und Fakire versetzt. Ich bereiste vor mehreren Jahren
die Chassidimgemeinden bei Ludim, um ihre selsamen Sitten in nächster Nähe
kennen zu lernen. An Ludim, das damals nicht weniger als vier chassidische Ober¬
häupter besaß, gruppirten sich uoch in kurzen Entfernungen mehrere solcher Ge¬
meinden, als Kozk, Worte, Abt, dann gegen die Grenzen Galiziens hin Joscfow
und Belschitz. Als ich im Wagen dahin fuhr — es war am Freitage —, bemerkte
ich eine große Bewegung wie von einer allgemeinen Wanderung. Die Josefower
suchten zu Sonnabend den Nebbe der Belschitzer und diese wieder denjenigen der
ersteren auf. Im Josefow blieb ich den Sonnabend und wohnte dem Abendgottes¬
dienste in der Synagoge bei. Die ganze Gemeinde wartete bis zum Erscheinen
des Rebbe, der ungewöhnlich lange in der Badstube verweilte. Endlich betrat er
das Gotteshaus. Es war ein kleines dürres Männchen in blendend weißen Atlas
gekleidet und die unvermeidliche Zobelmütze, das eigentliche Abzeichen seiner Würde,
auf dem Haupte. Hinter ihm folgten, eine regelrechte Größensecila bildend, seine
acht Söhne im Alter voll ungefähr sechs bis sechzehn Jahren, die alle Zobelmützen
und lange schwarze Seidenkaftane trugen, was sich gar possierlich ausnahm. Als
es zum eigentlichen Sabbatsgcsange „Lechododi" kam*), klatschte der Rebbe mit den
Händen, verließ seinen Sitz und schritt, erst die acht Bürschchen, dann die ganze
Gemeinde hinter sich, durch den Saal, um in demselben Umzug zu halten. Wie
eine Schaar Besessener ahmte die Versammlung singend und mit den Händen klat¬
schend alle verzückten Geberden ihres bald aufspringenden, bald niederfallenden An¬
führers getreulich nach. Es bleibt ein unvergeßliches Schauspiel für mich."

Wir wenden uns nun zur Secte der Rabbcmim, der Talmudjuden in Polen,
oder wie Wiener sich ausdrückt, zum „orthodoxen Judenthume, der Grundsänle
und dem wahren Spiegelbilds des eigentlichen jüdischen Lebens", wobei wir in kurz
gefaßten Auszügen aus der Arbeit des genannten jüdischen Gewährsmannes das,
was uns hier angeht, referiren, seine häufig sehr erkennbare Schönfärberei aber
im Hinblick auf weniger günstige Berichte vermeiden.

Wird in der Familie eines polnischen Talmudjuden ein Kind geboren, so wird
der Mutter zunächst „Masel too" (Gut Glück) gewünscht und ihr ein Gebetbuch
aufs Bett gelegt, in welchem der 121. Psalm aufgeschlagen ist. Dann fordert
der Aberglaube sein Recht, und man bringt über dem Bette der Wöchnerin, über



*) Wir schreiben die hebräischen Worte hier und im Folgenden wie Wiener nach der
Aussprache der polnischen Juden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/66>, abgerufen am 22.07.2024.