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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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vom politischen Standpunkte betrachtet noch schlimmer war, die Hartnäckigkeit
der Pforte war übel angebracht, sie zögerte und knauserte, ohne zu bedenken,
daß Verzögerung und Weigerung ihre Stellung vor Europa nicht verbessern
konnte. Sie mußte ihre verhältnißmäßig günstige Situation nach Schluß des
Berliner Congresses rasch benutzen und nicht glauben, daß die Tories in Eng¬
land zu ewiger Herrschaft bestimmt seien. Sie hat nicht so gehandelt und ist
von dem Regierungswechsel in London, mit welchem radicale Tendenzen, Be¬
freiungsideale auch in der auswärtigen Politik ans Ruder kamen, überrascht
worden. Hätte sie sich, so lange Beaeonsfield, bis zu einem gewissen Grade
ihr Gönner, regierte, im Geiste des 24. Artikels des Berliner Vertrags mit
Griechenland verglichen, so würde sie ohne Zweifel weniger zu opfern gehabt
haben als jetzt, wo nicht nur Frankreich, der alte Fürsprecher Griechenlands,
sondern auch England ihren Gegner unterstützt.

Dazu kommt aber noch, daß auch die mitteleuropäischen Mächte keine Ursache
haben, dem kleinen Königreiche Hellas eine ausgiebige Vergrößerung zu mi߬
gönnen, ja daß es in ihrem, zunächst in Oesterreich-Ungarns Interesse liegt,
daß dasselbe stärker wird, als es bisher war. Man kann ihm wohlwollen und
es mächtiger werden lassen, ohne seinen eigenen Vortheil dabei hintanzusetzen.
Wird die Türkei durch seine Vergrößerung geschwächt, so wird dafür ein anderer
natürlicher Gegner des gegen Westen vordringenden Slaventhums gekräftigt.
Verlieren die Albanesen, ein drittes den Slaven feindliches Element, dadurch
an Widerstandskraft, so geht dieselbe für Westeuropa nicht verloren, indem sie
den Griechen zu Gute kommt. Die Fallmerayersche Ansicht, daß die modernen
Hellenen Slaven seien, ist längst widerlegt, und die griechische Politik auf der
Balkanhalbinsel, die großgriechische Idee steht seit Jahren in directem Gegensatze
gegen die Pläne Rußlands und seiner Satelliten. Wenn Oesterreich-Ungarn
die Ansprüche der Griechen in Epirus und Thessalien befürwortet und sie durch¬
setzen hilft, bis zu dem Punkte im Osten, bis zu welchem sie im Vorwiegen der
hellenischen Sprache und Sitte Berechtigung haben, so stärkt es einen Staat,
der einst sein Bundesgenosse werden kann.

Daß die Griechen gleich den Russen und den Südslaven der morgenländi¬
schen Kirche angehören, fällt nicht sehr ins Gewicht. Die griechische Bildung,
der griechische Geist ist wesentlich anderen Charakters als die geistige Anlage
und deren Entwicklung bei den Slaven. Mehr als irgend ein anderes Volk
im Südosten Europas haben die Griechen sich das Wesen, die Bestrebungen
und die Einrichtungen des Westens zu eigen gemacht. Der Erfolg ist nicht in
jeder Beziehung ein glücklicher gewesen. Das constitutionelle System wirkte
hier keineswegs in mustergiltiger Weise, im Gegentheil, es führte zu Ereignissen
und Zuständen etwa wie in Spanien. Das Treiben der Parteien bietet ein


vom politischen Standpunkte betrachtet noch schlimmer war, die Hartnäckigkeit
der Pforte war übel angebracht, sie zögerte und knauserte, ohne zu bedenken,
daß Verzögerung und Weigerung ihre Stellung vor Europa nicht verbessern
konnte. Sie mußte ihre verhältnißmäßig günstige Situation nach Schluß des
Berliner Congresses rasch benutzen und nicht glauben, daß die Tories in Eng¬
land zu ewiger Herrschaft bestimmt seien. Sie hat nicht so gehandelt und ist
von dem Regierungswechsel in London, mit welchem radicale Tendenzen, Be¬
freiungsideale auch in der auswärtigen Politik ans Ruder kamen, überrascht
worden. Hätte sie sich, so lange Beaeonsfield, bis zu einem gewissen Grade
ihr Gönner, regierte, im Geiste des 24. Artikels des Berliner Vertrags mit
Griechenland verglichen, so würde sie ohne Zweifel weniger zu opfern gehabt
haben als jetzt, wo nicht nur Frankreich, der alte Fürsprecher Griechenlands,
sondern auch England ihren Gegner unterstützt.

Dazu kommt aber noch, daß auch die mitteleuropäischen Mächte keine Ursache
haben, dem kleinen Königreiche Hellas eine ausgiebige Vergrößerung zu mi߬
gönnen, ja daß es in ihrem, zunächst in Oesterreich-Ungarns Interesse liegt,
daß dasselbe stärker wird, als es bisher war. Man kann ihm wohlwollen und
es mächtiger werden lassen, ohne seinen eigenen Vortheil dabei hintanzusetzen.
Wird die Türkei durch seine Vergrößerung geschwächt, so wird dafür ein anderer
natürlicher Gegner des gegen Westen vordringenden Slaventhums gekräftigt.
Verlieren die Albanesen, ein drittes den Slaven feindliches Element, dadurch
an Widerstandskraft, so geht dieselbe für Westeuropa nicht verloren, indem sie
den Griechen zu Gute kommt. Die Fallmerayersche Ansicht, daß die modernen
Hellenen Slaven seien, ist längst widerlegt, und die griechische Politik auf der
Balkanhalbinsel, die großgriechische Idee steht seit Jahren in directem Gegensatze
gegen die Pläne Rußlands und seiner Satelliten. Wenn Oesterreich-Ungarn
die Ansprüche der Griechen in Epirus und Thessalien befürwortet und sie durch¬
setzen hilft, bis zu dem Punkte im Osten, bis zu welchem sie im Vorwiegen der
hellenischen Sprache und Sitte Berechtigung haben, so stärkt es einen Staat,
der einst sein Bundesgenosse werden kann.

Daß die Griechen gleich den Russen und den Südslaven der morgenländi¬
schen Kirche angehören, fällt nicht sehr ins Gewicht. Die griechische Bildung,
der griechische Geist ist wesentlich anderen Charakters als die geistige Anlage
und deren Entwicklung bei den Slaven. Mehr als irgend ein anderes Volk
im Südosten Europas haben die Griechen sich das Wesen, die Bestrebungen
und die Einrichtungen des Westens zu eigen gemacht. Der Erfolg ist nicht in
jeder Beziehung ein glücklicher gewesen. Das constitutionelle System wirkte
hier keineswegs in mustergiltiger Weise, im Gegentheil, es führte zu Ereignissen
und Zuständen etwa wie in Spanien. Das Treiben der Parteien bietet ein


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[0570] vom politischen Standpunkte betrachtet noch schlimmer war, die Hartnäckigkeit der Pforte war übel angebracht, sie zögerte und knauserte, ohne zu bedenken, daß Verzögerung und Weigerung ihre Stellung vor Europa nicht verbessern konnte. Sie mußte ihre verhältnißmäßig günstige Situation nach Schluß des Berliner Congresses rasch benutzen und nicht glauben, daß die Tories in Eng¬ land zu ewiger Herrschaft bestimmt seien. Sie hat nicht so gehandelt und ist von dem Regierungswechsel in London, mit welchem radicale Tendenzen, Be¬ freiungsideale auch in der auswärtigen Politik ans Ruder kamen, überrascht worden. Hätte sie sich, so lange Beaeonsfield, bis zu einem gewissen Grade ihr Gönner, regierte, im Geiste des 24. Artikels des Berliner Vertrags mit Griechenland verglichen, so würde sie ohne Zweifel weniger zu opfern gehabt haben als jetzt, wo nicht nur Frankreich, der alte Fürsprecher Griechenlands, sondern auch England ihren Gegner unterstützt. Dazu kommt aber noch, daß auch die mitteleuropäischen Mächte keine Ursache haben, dem kleinen Königreiche Hellas eine ausgiebige Vergrößerung zu mi߬ gönnen, ja daß es in ihrem, zunächst in Oesterreich-Ungarns Interesse liegt, daß dasselbe stärker wird, als es bisher war. Man kann ihm wohlwollen und es mächtiger werden lassen, ohne seinen eigenen Vortheil dabei hintanzusetzen. Wird die Türkei durch seine Vergrößerung geschwächt, so wird dafür ein anderer natürlicher Gegner des gegen Westen vordringenden Slaventhums gekräftigt. Verlieren die Albanesen, ein drittes den Slaven feindliches Element, dadurch an Widerstandskraft, so geht dieselbe für Westeuropa nicht verloren, indem sie den Griechen zu Gute kommt. Die Fallmerayersche Ansicht, daß die modernen Hellenen Slaven seien, ist längst widerlegt, und die griechische Politik auf der Balkanhalbinsel, die großgriechische Idee steht seit Jahren in directem Gegensatze gegen die Pläne Rußlands und seiner Satelliten. Wenn Oesterreich-Ungarn die Ansprüche der Griechen in Epirus und Thessalien befürwortet und sie durch¬ setzen hilft, bis zu dem Punkte im Osten, bis zu welchem sie im Vorwiegen der hellenischen Sprache und Sitte Berechtigung haben, so stärkt es einen Staat, der einst sein Bundesgenosse werden kann. Daß die Griechen gleich den Russen und den Südslaven der morgenländi¬ schen Kirche angehören, fällt nicht sehr ins Gewicht. Die griechische Bildung, der griechische Geist ist wesentlich anderen Charakters als die geistige Anlage und deren Entwicklung bei den Slaven. Mehr als irgend ein anderes Volk im Südosten Europas haben die Griechen sich das Wesen, die Bestrebungen und die Einrichtungen des Westens zu eigen gemacht. Der Erfolg ist nicht in jeder Beziehung ein glücklicher gewesen. Das constitutionelle System wirkte hier keineswegs in mustergiltiger Weise, im Gegentheil, es führte zu Ereignissen und Zuständen etwa wie in Spanien. Das Treiben der Parteien bietet ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/570>, abgerufen am 22.07.2024.