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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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welcher das einst in den Himmel gehobene altsächsische christliche Epos überhaupt
kein Epos, sondern nichts als ein Lehrgedicht ist. Auf einer breiten Grundlage
baut sich die "Mittelalterliche Renaissance" nnter den Karolingern und Ottonen
vor unseren Augen auf. Meisterhaft ist es, wie jenes Bild: "Otto III. in der
Gruft Karls des Großen im Dome zu Aachen", mit dem der Abschickt eröffnet
wird, zum Schluß mit tragischer Wendung noch einmal emportaucht, und wie
dadurch die Phantasie des Lesers gezwungen wird, die Periode in ihrem ein¬
heitlichen Charakter zu begreifen. Im letzten Abschnitt werden wir mit der
flüchtigen Tagespoesie der Spielleute bekannt gemacht. Scherer vergleicht die¬
selbe treffend mit der Journalistenthüigkeit unserer Tage, doch will uns die in
der Überschrift und auch sonst mehrfach fast wie ein technischer Ausdruck ver¬
wendete Bezeichnung "Wandernde Journalisten" nicht recht gefallen. Mit Interesse
verfolgen wir die verschiedenen Metamorphosen, welche das unstüte Völkchen
durchmacht. Durch die letzte veredelnde Umwandlung wurden den Spielleuten
die Ritterburgen erschlossen, und sie selber zu Pflegern des vornehmen Heldeu-
gesanges erhoben.

Seine "Geschichte der Deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert"
wollte Scherer an Gervinus' Geschichte der Deutschen Dichtung gemessen sehen.
Schon mit dem Titel erinnerte er an seinen großen Vorgänger; auch begann
er jene Studien mit der Ausführung einer Gervinusschen Parallele zwischen dein
10. und 16. Jahrhundert. Nicht minder läßt das vorliegende Buch Scherer in
mehr als einer Hinsicht als Gervinus' geistigen Schüler erscheinen, des einzigen
deutschen Literarhistorikers in großem Stil, wie er noch unlängst einmal genannt
wurde. Mit Gervinus erblickt Scherer als den eigentlichen Ziel- und Ruhe¬
punkt seiner Darstellung unsere Classiker des vorigen Jahrhunderts, mit ihm
theilt er das Streben, überall den Kampf der treibenden Kräfte klar zur An¬
schauung zu bringen und die geistige Bewegung auf dem großen Hintergrunde
der politischen Geschichte zu entwerfen. Nur äußerst selten scheinen uns die für
die Entwicklung der Literatur bedeutsamen historischen Momente nicht genügend
hervorzutreten oder unter etwas einseitiger Beleuchtung zu stehen. So hätte
nach unserer Ansicht S. 54 der schon unter Karl dem Großen sich regende,
unter seinem pfäffischen Nachfolger voll zum Durchbruch kommende Zelotismus
als Motiv für das Absterben der patriotisch-literarischen Bestrebungen des ersten
Frankenkaisers namhaft gemacht werden sollen. In den einleitenden Bemer-
kungen zum vierten Capitel "Das Ritterthum und die Kirche" -- der Verfasser
unterzieht die Vorbedingungen der ritterlichen Poesie einer prüfenden Betrach¬
tung -- wird mit Recht großes Gewicht auf den normannischen Einfluß gelegt.
Als Vermittler des französischen Wesens hätten neben den Normannen wohl
auch die Flamländer einen Platz verdient. Wie bezeichnend ist es doch, daß


Grenzboten II. 1880. 72

welcher das einst in den Himmel gehobene altsächsische christliche Epos überhaupt
kein Epos, sondern nichts als ein Lehrgedicht ist. Auf einer breiten Grundlage
baut sich die „Mittelalterliche Renaissance" nnter den Karolingern und Ottonen
vor unseren Augen auf. Meisterhaft ist es, wie jenes Bild: „Otto III. in der
Gruft Karls des Großen im Dome zu Aachen", mit dem der Abschickt eröffnet
wird, zum Schluß mit tragischer Wendung noch einmal emportaucht, und wie
dadurch die Phantasie des Lesers gezwungen wird, die Periode in ihrem ein¬
heitlichen Charakter zu begreifen. Im letzten Abschnitt werden wir mit der
flüchtigen Tagespoesie der Spielleute bekannt gemacht. Scherer vergleicht die¬
selbe treffend mit der Journalistenthüigkeit unserer Tage, doch will uns die in
der Überschrift und auch sonst mehrfach fast wie ein technischer Ausdruck ver¬
wendete Bezeichnung „Wandernde Journalisten" nicht recht gefallen. Mit Interesse
verfolgen wir die verschiedenen Metamorphosen, welche das unstüte Völkchen
durchmacht. Durch die letzte veredelnde Umwandlung wurden den Spielleuten
die Ritterburgen erschlossen, und sie selber zu Pflegern des vornehmen Heldeu-
gesanges erhoben.

Seine „Geschichte der Deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert"
wollte Scherer an Gervinus' Geschichte der Deutschen Dichtung gemessen sehen.
Schon mit dem Titel erinnerte er an seinen großen Vorgänger; auch begann
er jene Studien mit der Ausführung einer Gervinusschen Parallele zwischen dein
10. und 16. Jahrhundert. Nicht minder läßt das vorliegende Buch Scherer in
mehr als einer Hinsicht als Gervinus' geistigen Schüler erscheinen, des einzigen
deutschen Literarhistorikers in großem Stil, wie er noch unlängst einmal genannt
wurde. Mit Gervinus erblickt Scherer als den eigentlichen Ziel- und Ruhe¬
punkt seiner Darstellung unsere Classiker des vorigen Jahrhunderts, mit ihm
theilt er das Streben, überall den Kampf der treibenden Kräfte klar zur An¬
schauung zu bringen und die geistige Bewegung auf dem großen Hintergrunde
der politischen Geschichte zu entwerfen. Nur äußerst selten scheinen uns die für
die Entwicklung der Literatur bedeutsamen historischen Momente nicht genügend
hervorzutreten oder unter etwas einseitiger Beleuchtung zu stehen. So hätte
nach unserer Ansicht S. 54 der schon unter Karl dem Großen sich regende,
unter seinem pfäffischen Nachfolger voll zum Durchbruch kommende Zelotismus
als Motiv für das Absterben der patriotisch-literarischen Bestrebungen des ersten
Frankenkaisers namhaft gemacht werden sollen. In den einleitenden Bemer-
kungen zum vierten Capitel „Das Ritterthum und die Kirche" — der Verfasser
unterzieht die Vorbedingungen der ritterlichen Poesie einer prüfenden Betrach¬
tung — wird mit Recht großes Gewicht auf den normannischen Einfluß gelegt.
Als Vermittler des französischen Wesens hätten neben den Normannen wohl
auch die Flamländer einen Platz verdient. Wie bezeichnend ist es doch, daß


Grenzboten II. 1880. 72
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/565>, abgerufen am 22.07.2024.