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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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zu zählen sein, deren Namen zunächst wohl in jedem Leser Vorstellungen wach
rufen, welche der Schererschen Annahme einer von Frauenachtung und Huma¬
nität getragenen Zeit nicht eben günstig sind.

Nur die Poesie und den poetischen Stil jener Periode rückt Scherer, wie
uns dünkt, in etwas zu sanftes, mildes Licht. Man kann sehr wohl die Analyse
des Hildebrandsliedes gutheißen, wo Wiedergabe des Inhalts und ästhetische
Kritik aufs vollendetste vereinigt sind, man kann mit Scherer die ausgezeichnete
poetische Technik und den ergreifenden sittlichen Ernst des Bruchstücks bewun¬
dern, und dennoch eine gewisse Magerkeit und Starrheit dieser Kunst als Mangel
empfinden. Im Eingang des Capitels wurde der Beovulf als Probestück dessen
angeführt, was die germanische Dichtkunst jener ersten Periode vermochte, S. 27
heißt es: "Nur in dieser weicheren Luft (d. h. der Frauenachtung und Humanität)
konnte der Heldengesang sittlich emporwachsen, nur in ihr sich die Breite des
Epos, die Freude an gewähltem Benehmen, an machtvoller Rede, kurz: an ge¬
schmücktem Dasein entwickeln." Diese Charakteristik paßt vortrefflich für das
angelsächsische Epos, aber nicht für das deutsche, wenigstens nicht für den ein¬
zigen Rest desselben: das Hildebrandslied. Auch sind wir mit Richard Heinzel,
der den Ursachen dieses Stilunterschiedes nachgespürt hat (Stil der altgermani¬
schen Poesie, S. 30) der Ueberzeugung, daß auch die übrigen rührenden Stoffe
der deutschen Heldensage, die für jene Zeit bezeugt sind, in ihrer Behandlung
wie das Hildebrandslied weit abstanden von dem echt epischen Stil des Beovulf,
von dessen behaglicher Ausbreitung und gefühlvollen Verweilen bei seelischen
Zuständen.

Die beiden letzten Abschnitte des zweiten Capitels behandeln Ulphilas und
das Reich der Merovinger, die Christianisirung der Gothen, Franken, Sachsen:
unseres gesammten Vaterlandes. Im Gefolge der Einwirkungen romanischer
Cultur haben wir auch "den sinnerfreuenden Schmuck des Reimes" von unseren
kunstgeübtereu Nachbarn überkommen. Zum Beschluß lernen wir die hochdeut¬
sche Lautverschiebung kennen, jene entscheidende Thatsache der deutschen Sprach¬
geschichte, welche eine schroffe Trennung zwischen Nord- und Süddeutsch her¬
beiführte, deren gefährliche Consequenzen zwar schon durch die energisch zusam¬
menhaltende Regierung Karls des Großen gehemmt, die aber völlig doch erst
durch die Reformation aufgehoben wurde.

Doch wir dürfen nicht in derselben Ausführlichkeit wie bisher dem Verfasser
in die Einzelheiten seiner Darstellung folgen. Die Unterabtheilungen des 3.
Capitels "Das erneuerte Kaiserthum" tragen die Ueberschriften: "Die ersten
Messiaden", "Mittelalterliche Renaissance" und "Wandernde Journalisten". Aus
der ersten heben wir nur hervor, daß Scherer in der Beurtheilung des "Heliand"
der in neuerer Zeit sich mehr und mehr bahnbrechenden Ansicht huldigt, nach


zu zählen sein, deren Namen zunächst wohl in jedem Leser Vorstellungen wach
rufen, welche der Schererschen Annahme einer von Frauenachtung und Huma¬
nität getragenen Zeit nicht eben günstig sind.

Nur die Poesie und den poetischen Stil jener Periode rückt Scherer, wie
uns dünkt, in etwas zu sanftes, mildes Licht. Man kann sehr wohl die Analyse
des Hildebrandsliedes gutheißen, wo Wiedergabe des Inhalts und ästhetische
Kritik aufs vollendetste vereinigt sind, man kann mit Scherer die ausgezeichnete
poetische Technik und den ergreifenden sittlichen Ernst des Bruchstücks bewun¬
dern, und dennoch eine gewisse Magerkeit und Starrheit dieser Kunst als Mangel
empfinden. Im Eingang des Capitels wurde der Beovulf als Probestück dessen
angeführt, was die germanische Dichtkunst jener ersten Periode vermochte, S. 27
heißt es: „Nur in dieser weicheren Luft (d. h. der Frauenachtung und Humanität)
konnte der Heldengesang sittlich emporwachsen, nur in ihr sich die Breite des
Epos, die Freude an gewähltem Benehmen, an machtvoller Rede, kurz: an ge¬
schmücktem Dasein entwickeln." Diese Charakteristik paßt vortrefflich für das
angelsächsische Epos, aber nicht für das deutsche, wenigstens nicht für den ein¬
zigen Rest desselben: das Hildebrandslied. Auch sind wir mit Richard Heinzel,
der den Ursachen dieses Stilunterschiedes nachgespürt hat (Stil der altgermani¬
schen Poesie, S. 30) der Ueberzeugung, daß auch die übrigen rührenden Stoffe
der deutschen Heldensage, die für jene Zeit bezeugt sind, in ihrer Behandlung
wie das Hildebrandslied weit abstanden von dem echt epischen Stil des Beovulf,
von dessen behaglicher Ausbreitung und gefühlvollen Verweilen bei seelischen
Zuständen.

Die beiden letzten Abschnitte des zweiten Capitels behandeln Ulphilas und
das Reich der Merovinger, die Christianisirung der Gothen, Franken, Sachsen:
unseres gesammten Vaterlandes. Im Gefolge der Einwirkungen romanischer
Cultur haben wir auch „den sinnerfreuenden Schmuck des Reimes" von unseren
kunstgeübtereu Nachbarn überkommen. Zum Beschluß lernen wir die hochdeut¬
sche Lautverschiebung kennen, jene entscheidende Thatsache der deutschen Sprach¬
geschichte, welche eine schroffe Trennung zwischen Nord- und Süddeutsch her¬
beiführte, deren gefährliche Consequenzen zwar schon durch die energisch zusam¬
menhaltende Regierung Karls des Großen gehemmt, die aber völlig doch erst
durch die Reformation aufgehoben wurde.

Doch wir dürfen nicht in derselben Ausführlichkeit wie bisher dem Verfasser
in die Einzelheiten seiner Darstellung folgen. Die Unterabtheilungen des 3.
Capitels „Das erneuerte Kaiserthum" tragen die Ueberschriften: „Die ersten
Messiaden", „Mittelalterliche Renaissance" und „Wandernde Journalisten". Aus
der ersten heben wir nur hervor, daß Scherer in der Beurtheilung des „Heliand"
der in neuerer Zeit sich mehr und mehr bahnbrechenden Ansicht huldigt, nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/564>, abgerufen am 22.07.2024.