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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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"Nachtansicht" hier keineswegs rechtfertigen dürfte, in einer Schwebe zwischen
jenen zwei Möglichkeiten zu halten, die uns unhaltbar scheint.

Haben wir bis hierher immer noch nur das Gesammtbild der Fechner'schen
"Tagesansicht" zu zeichnen gesucht, so wäre es wohl anlockend genug, auch
manche Einzelheiten derselben in nähere Betrachtung zu ziehen. Wir begnügen
uns jedoch bei der kürzesten Charakteristik der bedeutsamsten unter diesen Einzel¬
zügen und heben hierbei vor allem die Verhandlungen über Freiheit und
Nothwendigkeit hervor, welche den 16. und im Grunde auch den 17. und 18.
Abschnitt des Buches füllen oder doch von innen heraus beherrschen und wohl
als die wissenschaftlich gründlichste und befriedigendste Partie des Ganzen zu
schätzen sind. Selten ist so klar wie hier das Vorurtheil widerlegt worden,
als ob eine Freiheit des Willens, durch welche das Gesetz der Ursachfolge
durchbrochen wird und eine ursachlose Wahl zwischen gleichschwebenden Mög¬
lichkeiten zu entscheiden vermag, irgendwie im Interesse der Sittlichkeit liege.
Eine solche Freiheit würde in der That vielmehr jede Wirkung versittlichender,
erziehender Einflüsse völlig illusorisch machen; denn in solchen Einflüssen würde
kein verursachender Werth mehr zu suchen sein für die Herbeiführung sittlichen
Wollens. Ein Vater, der seinen Knaben schlüge, müßte aufrichtiger Weise zu
diesem also sprechen: "Wenn ich dich jetzt schlage, so weiß ich eigentlich nicht,
warum ich es thue, da ich dir die Freiheit damit doch nicht verkürzen kann
und darf", ja er müßte das Söhnchen davor warnen, sich aus den Schlägen
etwas zu machen: "Widerstehe der Versuchung, dich dadurch vom Bösen ab¬
halten zu lassen, das darf bloß Sache deiner Freiheit sein." Er müßte ihm
sagen, daß die Strafe nur Sühne sein solle, ohne sittliche Wirkung, wie sie
von den Strafrechtslehrern häufig aufgefaßt wird: "Es liegt nun einmal in
der Weltordnung, daß Sünde Sühne verlangt, wenn ich auch nicht weiß,
warum sie auf das moralische Uebel noch ein physisches gesetzt wissen will".
(S. 175 f.) Die nach dieser Verwerfung der Freiheitsansicht allein übrig blei¬
bende Nothwendigkeit beherrscht nun freilich nicht Gott und Welt in der Weise
eines physikalisch-mechanischen, sondern in der Weise eines logisch - teleolo-
gischen Causalnerus. In einer Weltansicht, für die es eigentlich nur Geist,
keine Materie giebt, kann es auch nur geistige Verursachung, geistig-sittliche
Nothwendigkeit geben. Fechners Gott ist der Gott des Guten, der
Liebe, darum ist seine Welt die Welt eines zur Vollendung des Guten fort¬
schreitenden Processes, und das Gute, als Endziel aufgefaßt, ist eins mit dem'
Wohl, mit der Lust. Die Liebe will ja nichts Anderes, kann nichts Anderes
wollen, als Lust, Freude, Wohl verbreiten. Dieses sittliche Princip ist zugleich
ein Lustpriucip für jeden, der von ihm beseelt ist, selbst; denn er findet in dem
Wollen fremder, allgemeiner Lust zugleich die seinige, und so giebt es auch kein


„Nachtansicht" hier keineswegs rechtfertigen dürfte, in einer Schwebe zwischen
jenen zwei Möglichkeiten zu halten, die uns unhaltbar scheint.

Haben wir bis hierher immer noch nur das Gesammtbild der Fechner'schen
„Tagesansicht" zu zeichnen gesucht, so wäre es wohl anlockend genug, auch
manche Einzelheiten derselben in nähere Betrachtung zu ziehen. Wir begnügen
uns jedoch bei der kürzesten Charakteristik der bedeutsamsten unter diesen Einzel¬
zügen und heben hierbei vor allem die Verhandlungen über Freiheit und
Nothwendigkeit hervor, welche den 16. und im Grunde auch den 17. und 18.
Abschnitt des Buches füllen oder doch von innen heraus beherrschen und wohl
als die wissenschaftlich gründlichste und befriedigendste Partie des Ganzen zu
schätzen sind. Selten ist so klar wie hier das Vorurtheil widerlegt worden,
als ob eine Freiheit des Willens, durch welche das Gesetz der Ursachfolge
durchbrochen wird und eine ursachlose Wahl zwischen gleichschwebenden Mög¬
lichkeiten zu entscheiden vermag, irgendwie im Interesse der Sittlichkeit liege.
Eine solche Freiheit würde in der That vielmehr jede Wirkung versittlichender,
erziehender Einflüsse völlig illusorisch machen; denn in solchen Einflüssen würde
kein verursachender Werth mehr zu suchen sein für die Herbeiführung sittlichen
Wollens. Ein Vater, der seinen Knaben schlüge, müßte aufrichtiger Weise zu
diesem also sprechen: „Wenn ich dich jetzt schlage, so weiß ich eigentlich nicht,
warum ich es thue, da ich dir die Freiheit damit doch nicht verkürzen kann
und darf", ja er müßte das Söhnchen davor warnen, sich aus den Schlägen
etwas zu machen: „Widerstehe der Versuchung, dich dadurch vom Bösen ab¬
halten zu lassen, das darf bloß Sache deiner Freiheit sein." Er müßte ihm
sagen, daß die Strafe nur Sühne sein solle, ohne sittliche Wirkung, wie sie
von den Strafrechtslehrern häufig aufgefaßt wird: „Es liegt nun einmal in
der Weltordnung, daß Sünde Sühne verlangt, wenn ich auch nicht weiß,
warum sie auf das moralische Uebel noch ein physisches gesetzt wissen will".
(S. 175 f.) Die nach dieser Verwerfung der Freiheitsansicht allein übrig blei¬
bende Nothwendigkeit beherrscht nun freilich nicht Gott und Welt in der Weise
eines physikalisch-mechanischen, sondern in der Weise eines logisch - teleolo-
gischen Causalnerus. In einer Weltansicht, für die es eigentlich nur Geist,
keine Materie giebt, kann es auch nur geistige Verursachung, geistig-sittliche
Nothwendigkeit geben. Fechners Gott ist der Gott des Guten, der
Liebe, darum ist seine Welt die Welt eines zur Vollendung des Guten fort¬
schreitenden Processes, und das Gute, als Endziel aufgefaßt, ist eins mit dem'
Wohl, mit der Lust. Die Liebe will ja nichts Anderes, kann nichts Anderes
wollen, als Lust, Freude, Wohl verbreiten. Dieses sittliche Princip ist zugleich
ein Lustpriucip für jeden, der von ihm beseelt ist, selbst; denn er findet in dem
Wollen fremder, allgemeiner Lust zugleich die seinige, und so giebt es auch kein


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[0547] „Nachtansicht" hier keineswegs rechtfertigen dürfte, in einer Schwebe zwischen jenen zwei Möglichkeiten zu halten, die uns unhaltbar scheint. Haben wir bis hierher immer noch nur das Gesammtbild der Fechner'schen „Tagesansicht" zu zeichnen gesucht, so wäre es wohl anlockend genug, auch manche Einzelheiten derselben in nähere Betrachtung zu ziehen. Wir begnügen uns jedoch bei der kürzesten Charakteristik der bedeutsamsten unter diesen Einzel¬ zügen und heben hierbei vor allem die Verhandlungen über Freiheit und Nothwendigkeit hervor, welche den 16. und im Grunde auch den 17. und 18. Abschnitt des Buches füllen oder doch von innen heraus beherrschen und wohl als die wissenschaftlich gründlichste und befriedigendste Partie des Ganzen zu schätzen sind. Selten ist so klar wie hier das Vorurtheil widerlegt worden, als ob eine Freiheit des Willens, durch welche das Gesetz der Ursachfolge durchbrochen wird und eine ursachlose Wahl zwischen gleichschwebenden Mög¬ lichkeiten zu entscheiden vermag, irgendwie im Interesse der Sittlichkeit liege. Eine solche Freiheit würde in der That vielmehr jede Wirkung versittlichender, erziehender Einflüsse völlig illusorisch machen; denn in solchen Einflüssen würde kein verursachender Werth mehr zu suchen sein für die Herbeiführung sittlichen Wollens. Ein Vater, der seinen Knaben schlüge, müßte aufrichtiger Weise zu diesem also sprechen: „Wenn ich dich jetzt schlage, so weiß ich eigentlich nicht, warum ich es thue, da ich dir die Freiheit damit doch nicht verkürzen kann und darf", ja er müßte das Söhnchen davor warnen, sich aus den Schlägen etwas zu machen: „Widerstehe der Versuchung, dich dadurch vom Bösen ab¬ halten zu lassen, das darf bloß Sache deiner Freiheit sein." Er müßte ihm sagen, daß die Strafe nur Sühne sein solle, ohne sittliche Wirkung, wie sie von den Strafrechtslehrern häufig aufgefaßt wird: „Es liegt nun einmal in der Weltordnung, daß Sünde Sühne verlangt, wenn ich auch nicht weiß, warum sie auf das moralische Uebel noch ein physisches gesetzt wissen will". (S. 175 f.) Die nach dieser Verwerfung der Freiheitsansicht allein übrig blei¬ bende Nothwendigkeit beherrscht nun freilich nicht Gott und Welt in der Weise eines physikalisch-mechanischen, sondern in der Weise eines logisch - teleolo- gischen Causalnerus. In einer Weltansicht, für die es eigentlich nur Geist, keine Materie giebt, kann es auch nur geistige Verursachung, geistig-sittliche Nothwendigkeit geben. Fechners Gott ist der Gott des Guten, der Liebe, darum ist seine Welt die Welt eines zur Vollendung des Guten fort¬ schreitenden Processes, und das Gute, als Endziel aufgefaßt, ist eins mit dem' Wohl, mit der Lust. Die Liebe will ja nichts Anderes, kann nichts Anderes wollen, als Lust, Freude, Wohl verbreiten. Dieses sittliche Princip ist zugleich ein Lustpriucip für jeden, der von ihm beseelt ist, selbst; denn er findet in dem Wollen fremder, allgemeiner Lust zugleich die seinige, und so giebt es auch kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/547>, abgerufen am 22.07.2024.