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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Angelegenheiten. Treitschke nennt sie ein Wiederanknüpfen an die schönsten
Ueberlieferungen der Zollvereinsgeschichte und meint, es wäre ein Unglück für
Deutschland, wenn der Liberalismus wieder zurückfiele in die Kinderkrankheit
der Begeisterung für das Recht der Augusteuburger und sich durch die wohl¬
lautenden Schlagworte des particularistischen Eigensinns bethören ließe; es handle
sich hier einfach um fröhliches Abschneiden eines ehrwürdigen alten Zopfes,
der seine unvergeßlichen Tage gehabt habe, aber schon längst nicht mehr zu einer
Verschönerung des Reichskörpers diene -- eine Auffassung vom Standpunkte
der Aesthetik, die wir theilen, der wir aber noch hinzufügen, daß es sich auch
um andere Dinge handelt, z. B. um Beseitigung der doppelten Zolllinie, welche
die Preußen an der Unterelbe, die Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein
von einander trennt.

Und nun das zweite Thema. Hin und wieder begegnet man bei Besprechungen
des Streites über die kirchenpolitische Vorlage Behauptungen, die auf der An¬
sicht beruhen, daß die Regierung bei einer Auflösung oder Umgestaltung des
Centrums viel zu hoffen und zu gewinnen hätte, indem die Conservativen,
andere sagen, die Gouvernementalen, dadurch wesentlich verstärkt werden würden.

Die Liberalen sehen das mit Besorgniß kommen. Man weiß, wie Rußland
uns nie zu stark gegen Frankreich werden zu lassen bemüht war, weil dann der
Werth seiner Freundschaft und seines etwaigen Beistandes gesunken wäre; wir
sollten bis zu einem gewissen Grade von ihm abhängig, ihm zu Gegenleistungen
verpflichtet bleiben. Genau so verhält es sich mit den Liberalen, auch mit denen
vom rechten Flügel. Sie denken zuerst an sich und ihre Partei, und daß die
Regierung sie als Macht betrachten und behandeln soll, deren guter Wille seinen
Preis hat. Sie fühlen sich im Grunde dem Kanzler gegenüber als Fremde
mit eigenen Zwecken, als Opposition, die durch Concessionen gewonnen werden, deren
zeitweilige Unterstützung möglichst hoch geschätzt und möglichst reichlich belohnt
werden muß. Immer soll man auf der Wilhelmsstraße ihre Unentbehrlichkeit fühlen,
damit man genöthigt sei, mit ihnen zu pactiren. Dazu ist erforderlich, daß die
Regierung nicht zu stark werde, und so ist ihnen die Existenz des Centrums
als einer starken Opposition im Stillen eine willkommene Erscheinung, so wenig sie
auch sonst mit demselben als dem Lager des Ultramonismus direct gemein haben
mögen. Die Regierung soll Angesichts dieser 95 oder 100 Oppositionsmänner
der katholischen Seite jeden Augenblick ihre Schwäche zu empfinden haben
für den Fall, daß die liberale Seite ihr die Herresfolge versagt. Sie soll mit
dieser rechnen, mit ihr handeln, der Partei ihr Wohlwollen abkaufen. Das ist
aber Fractionspolitik, keine solche, die den Staat und seine Befestigung im
Auge hat.


Angelegenheiten. Treitschke nennt sie ein Wiederanknüpfen an die schönsten
Ueberlieferungen der Zollvereinsgeschichte und meint, es wäre ein Unglück für
Deutschland, wenn der Liberalismus wieder zurückfiele in die Kinderkrankheit
der Begeisterung für das Recht der Augusteuburger und sich durch die wohl¬
lautenden Schlagworte des particularistischen Eigensinns bethören ließe; es handle
sich hier einfach um fröhliches Abschneiden eines ehrwürdigen alten Zopfes,
der seine unvergeßlichen Tage gehabt habe, aber schon längst nicht mehr zu einer
Verschönerung des Reichskörpers diene — eine Auffassung vom Standpunkte
der Aesthetik, die wir theilen, der wir aber noch hinzufügen, daß es sich auch
um andere Dinge handelt, z. B. um Beseitigung der doppelten Zolllinie, welche
die Preußen an der Unterelbe, die Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein
von einander trennt.

Und nun das zweite Thema. Hin und wieder begegnet man bei Besprechungen
des Streites über die kirchenpolitische Vorlage Behauptungen, die auf der An¬
sicht beruhen, daß die Regierung bei einer Auflösung oder Umgestaltung des
Centrums viel zu hoffen und zu gewinnen hätte, indem die Conservativen,
andere sagen, die Gouvernementalen, dadurch wesentlich verstärkt werden würden.

Die Liberalen sehen das mit Besorgniß kommen. Man weiß, wie Rußland
uns nie zu stark gegen Frankreich werden zu lassen bemüht war, weil dann der
Werth seiner Freundschaft und seines etwaigen Beistandes gesunken wäre; wir
sollten bis zu einem gewissen Grade von ihm abhängig, ihm zu Gegenleistungen
verpflichtet bleiben. Genau so verhält es sich mit den Liberalen, auch mit denen
vom rechten Flügel. Sie denken zuerst an sich und ihre Partei, und daß die
Regierung sie als Macht betrachten und behandeln soll, deren guter Wille seinen
Preis hat. Sie fühlen sich im Grunde dem Kanzler gegenüber als Fremde
mit eigenen Zwecken, als Opposition, die durch Concessionen gewonnen werden, deren
zeitweilige Unterstützung möglichst hoch geschätzt und möglichst reichlich belohnt
werden muß. Immer soll man auf der Wilhelmsstraße ihre Unentbehrlichkeit fühlen,
damit man genöthigt sei, mit ihnen zu pactiren. Dazu ist erforderlich, daß die
Regierung nicht zu stark werde, und so ist ihnen die Existenz des Centrums
als einer starken Opposition im Stillen eine willkommene Erscheinung, so wenig sie
auch sonst mit demselben als dem Lager des Ultramonismus direct gemein haben
mögen. Die Regierung soll Angesichts dieser 95 oder 100 Oppositionsmänner
der katholischen Seite jeden Augenblick ihre Schwäche zu empfinden haben
für den Fall, daß die liberale Seite ihr die Herresfolge versagt. Sie soll mit
dieser rechnen, mit ihr handeln, der Partei ihr Wohlwollen abkaufen. Das ist
aber Fractionspolitik, keine solche, die den Staat und seine Befestigung im
Auge hat.


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[0530] Angelegenheiten. Treitschke nennt sie ein Wiederanknüpfen an die schönsten Ueberlieferungen der Zollvereinsgeschichte und meint, es wäre ein Unglück für Deutschland, wenn der Liberalismus wieder zurückfiele in die Kinderkrankheit der Begeisterung für das Recht der Augusteuburger und sich durch die wohl¬ lautenden Schlagworte des particularistischen Eigensinns bethören ließe; es handle sich hier einfach um fröhliches Abschneiden eines ehrwürdigen alten Zopfes, der seine unvergeßlichen Tage gehabt habe, aber schon längst nicht mehr zu einer Verschönerung des Reichskörpers diene — eine Auffassung vom Standpunkte der Aesthetik, die wir theilen, der wir aber noch hinzufügen, daß es sich auch um andere Dinge handelt, z. B. um Beseitigung der doppelten Zolllinie, welche die Preußen an der Unterelbe, die Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein von einander trennt. Und nun das zweite Thema. Hin und wieder begegnet man bei Besprechungen des Streites über die kirchenpolitische Vorlage Behauptungen, die auf der An¬ sicht beruhen, daß die Regierung bei einer Auflösung oder Umgestaltung des Centrums viel zu hoffen und zu gewinnen hätte, indem die Conservativen, andere sagen, die Gouvernementalen, dadurch wesentlich verstärkt werden würden. Die Liberalen sehen das mit Besorgniß kommen. Man weiß, wie Rußland uns nie zu stark gegen Frankreich werden zu lassen bemüht war, weil dann der Werth seiner Freundschaft und seines etwaigen Beistandes gesunken wäre; wir sollten bis zu einem gewissen Grade von ihm abhängig, ihm zu Gegenleistungen verpflichtet bleiben. Genau so verhält es sich mit den Liberalen, auch mit denen vom rechten Flügel. Sie denken zuerst an sich und ihre Partei, und daß die Regierung sie als Macht betrachten und behandeln soll, deren guter Wille seinen Preis hat. Sie fühlen sich im Grunde dem Kanzler gegenüber als Fremde mit eigenen Zwecken, als Opposition, die durch Concessionen gewonnen werden, deren zeitweilige Unterstützung möglichst hoch geschätzt und möglichst reichlich belohnt werden muß. Immer soll man auf der Wilhelmsstraße ihre Unentbehrlichkeit fühlen, damit man genöthigt sei, mit ihnen zu pactiren. Dazu ist erforderlich, daß die Regierung nicht zu stark werde, und so ist ihnen die Existenz des Centrums als einer starken Opposition im Stillen eine willkommene Erscheinung, so wenig sie auch sonst mit demselben als dem Lager des Ultramonismus direct gemein haben mögen. Die Regierung soll Angesichts dieser 95 oder 100 Oppositionsmänner der katholischen Seite jeden Augenblick ihre Schwäche zu empfinden haben für den Fall, daß die liberale Seite ihr die Herresfolge versagt. Sie soll mit dieser rechnen, mit ihr handeln, der Partei ihr Wohlwollen abkaufen. Das ist aber Fractionspolitik, keine solche, die den Staat und seine Befestigung im Auge hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/530>, abgerufen am 24.08.2024.