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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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aber, die Erstreckung der damals bekannten Welt nach Norden hin zu ermitteln,
fand Mitte des 9. Jahrhunderts n. Chr. statt; über die genaue Jahreszahl schwanken
die Angaben zwischen 850 und 880. Würde sich bei fortgesetzten Nachforschungen
die letztere Datirung als die richtige erweisen, so würde das 1000jährige Alter
der Frage sogar mathematisch genau sein.

Schon Ottar nämlich, angelsächsisch OtKero, ein norwegischer Edelmann,
im Helgenlande wohnend, von wo aus die scandinavischen Küsten nach damaliger
Fahrt nur noch drei Tagereisen weit bekannt waren, beschloß eine Endeckungs-
reise zu unternehmen, "um zu erkunden, wie weit sich wohl das Land in jener
Richtung erstrecken möge". Immer an der Küste sich haltend, segelte er erst
nordwärts, bog dann nach Osten um und lief nach neuntägiger theils östlicher
theils südlicher Fahrt in die Mündung eines großen Flusses ein. Demnach war
er nach Entdeckung des jetzt Nordkap genannten Vorsprungs in das weiße Meer
und an die Mündung der Dwina gelangt. Aus Furcht vor der Küstenbe¬
völkerung aber, die ihm einen feindseligen Eindruck zu machen schien, wagte
er es nicht ans Land zu gehen, sondern kehrte, ohne irgend welche Bezieh¬
ungen daselbst angeknüpft zu haben, an den heimischen Heerd zurück. Diese
in edlem Wissenstriebe unternommene Fahrt blieb wie fast alle nautischen Leistungen
der Normannen unbeachtet und verfiel der Vergessenheit. Mit ihr sank auch
die Nordspitze Europas in Lethes Reich zurück und träumte weiter, bis mit dem
Erwachen des Wandertriebes im 15. und.16. Jahrhundert auch sie ihre Wieder¬
erweckung finden sollte. Damals war es allerdings nicht ein idealer Forscher¬
trieb, der die Seefahrer in diese Welt des Eises führte, sondern nur eine Species
der ü,uri Wer", lÄmss.

Daß der eigentliche Sporn für die Entdecker am Ausgange des Mittel¬
alters der durch die Phantasie in übertriebener Weise ausgemalte Reichthum
des tropischen und subtropischen Asiens war, darf als eine bekannte Thatsache
gelten. Ueber die Lage dieser Länder herrschten damals noch sehr irrige Mei¬
nungen. Columbus selbst nahm die Entfernung zwischen dem Westrande Europas
und dem von ihm gesuchten Ostrande Asiens um mehrere hundert Meilen zu
klein an, und von dem Dasein der ungeheuren Tiefebene im Norden Asiens, die ja
Europa an Ausdehnung nicht unbeträchtlich übertrifft, hatte auch er keine Ahnung.
Die Kenntnisse, welche das 16. Jahrhundert vom Norden und Nordosten der
alten Welt besaß, können wir nach dem Werke des Kärntners Sigmund von
Herberstein: Rsruw, Uosczvvitarum Lominknwrii (Wien, 1549) genau ver¬
folgen. Auf der von ihm entworfenen Karte, der ersten, welche die Erdkunde
von Rußland kennt, erscheint unter anderem das Weiße Meer als ein Arm des
Eismeeres, der Ural nicht mehr wie bei den Alten als westöstliches, sondern
als südnördliches Gebirge und als Ursprung des Ob der See Kitaisk, der nach


aber, die Erstreckung der damals bekannten Welt nach Norden hin zu ermitteln,
fand Mitte des 9. Jahrhunderts n. Chr. statt; über die genaue Jahreszahl schwanken
die Angaben zwischen 850 und 880. Würde sich bei fortgesetzten Nachforschungen
die letztere Datirung als die richtige erweisen, so würde das 1000jährige Alter
der Frage sogar mathematisch genau sein.

Schon Ottar nämlich, angelsächsisch OtKero, ein norwegischer Edelmann,
im Helgenlande wohnend, von wo aus die scandinavischen Küsten nach damaliger
Fahrt nur noch drei Tagereisen weit bekannt waren, beschloß eine Endeckungs-
reise zu unternehmen, „um zu erkunden, wie weit sich wohl das Land in jener
Richtung erstrecken möge". Immer an der Küste sich haltend, segelte er erst
nordwärts, bog dann nach Osten um und lief nach neuntägiger theils östlicher
theils südlicher Fahrt in die Mündung eines großen Flusses ein. Demnach war
er nach Entdeckung des jetzt Nordkap genannten Vorsprungs in das weiße Meer
und an die Mündung der Dwina gelangt. Aus Furcht vor der Küstenbe¬
völkerung aber, die ihm einen feindseligen Eindruck zu machen schien, wagte
er es nicht ans Land zu gehen, sondern kehrte, ohne irgend welche Bezieh¬
ungen daselbst angeknüpft zu haben, an den heimischen Heerd zurück. Diese
in edlem Wissenstriebe unternommene Fahrt blieb wie fast alle nautischen Leistungen
der Normannen unbeachtet und verfiel der Vergessenheit. Mit ihr sank auch
die Nordspitze Europas in Lethes Reich zurück und träumte weiter, bis mit dem
Erwachen des Wandertriebes im 15. und.16. Jahrhundert auch sie ihre Wieder¬
erweckung finden sollte. Damals war es allerdings nicht ein idealer Forscher¬
trieb, der die Seefahrer in diese Welt des Eises führte, sondern nur eine Species
der ü,uri Wer«, lÄmss.

Daß der eigentliche Sporn für die Entdecker am Ausgange des Mittel¬
alters der durch die Phantasie in übertriebener Weise ausgemalte Reichthum
des tropischen und subtropischen Asiens war, darf als eine bekannte Thatsache
gelten. Ueber die Lage dieser Länder herrschten damals noch sehr irrige Mei¬
nungen. Columbus selbst nahm die Entfernung zwischen dem Westrande Europas
und dem von ihm gesuchten Ostrande Asiens um mehrere hundert Meilen zu
klein an, und von dem Dasein der ungeheuren Tiefebene im Norden Asiens, die ja
Europa an Ausdehnung nicht unbeträchtlich übertrifft, hatte auch er keine Ahnung.
Die Kenntnisse, welche das 16. Jahrhundert vom Norden und Nordosten der
alten Welt besaß, können wir nach dem Werke des Kärntners Sigmund von
Herberstein: Rsruw, Uosczvvitarum Lominknwrii (Wien, 1549) genau ver¬
folgen. Auf der von ihm entworfenen Karte, der ersten, welche die Erdkunde
von Rußland kennt, erscheint unter anderem das Weiße Meer als ein Arm des
Eismeeres, der Ural nicht mehr wie bei den Alten als westöstliches, sondern
als südnördliches Gebirge und als Ursprung des Ob der See Kitaisk, der nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/493>, abgerufen am 22.07.2024.