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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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indem sie die in Berlin vorgesehenen Reformen durchführe, und zwar unter
Aufsicht einer internationalen Commission. Sollte die Pforte darauf nicht ein¬
gehen, so würde England die europäischen Großmächte zu einer neuen Konferenz
einladen, welche Maßregeln zur Sicherung des Friedens zu ergreifen hätte. Wäre
eine Verständigung aller dieser Mächte nicht zu erreichen, so würde man von
London aus versuchen, eine Vereinigung derjenigen von ihnen, welche den dort
gehegten Meinungen und Wünschen günstig wären, zur Verwirklichung der
letzteren, bei der im Nothfalle Gewalt anzuwenden wäre, zu Stande zu bringen.

Hiernach bestände die Politik, die das neue englische Cabinet hinsichtlich
der Balkanländer im Auge hätte, im letzten Grunde in dem Plane, die von
Gladstone und seinen Amtsgenossen als bereits todt oder doch dem Tode ganz
nahe betrachtete Türkei unverzüglich von den im Reiche wohnenden Nationen
beerben zu lassen. Das kann sehr menschenfreundlich gemeint sein und paßt
auch ganz vortrefflich in die liberale Schablone, zeigt aber nicht von staats¬
männischem Scharfsinn und guter Kenntniß der Verhältnisse. Setzen wir den
Fall, daß sich für den Anfang Alles nach den Wünschen des englischen Premiers
gestaltet, daß die Großmächte, nachdem die Türkei van xossnnius gesagt hat,
sich allesammt für einverstanden mit jenen edeln Intentionen erklären, daß sie
-- etwa in Berlin -- einen Ergänzungs- und Weiterbildungs-Congreß abhalten,
und daß dieser sich über die an den Sultan zu richtenden Forderungen und
das demselben gegenüber weiter einzuschlagende Verfahren einigt, falls die Pforte
bei ihrem non xossumus verharrt. Man stellt die Unfähigkeit der Türkei weiter
zu leben fest und zerschlägt das osmanische Reich in Kleinstaaten, die sich nach
ihres Herzens Begehr selbst regieren dürfen. Neben Rumänien, Serbien und
Montenegro, die schon vorhanden sind, werden ein Fürstenthum Bulgarien, das
bis an das Aegeische Meer sich erstreckt, wie es der Vertrag von San Stefano
haben wollte, ein Fürstenthum Albanien und ein Großgriechenland geschaffen, den?
Thessalien und ein Stück von Macedonien zugetheilt werden. Herr Gladstone
wäre also befriedigt, er hätte erreicht, was ihm vorgeschwebt. In Wahrheit
hätte er dann, ganz abgesehen davon, daß, wie Bulgarien genügend gezeigt hat,
die Balkanvölker sich nicht selbst regieren können, sondern langsam, dadurch, daß
man sie theilweise befreit, zum Gebrauche der Freiheit erzogen werden müssen,
wie der Isroxs sehr verständig hervorhob, nur das eine erreicht, daß die Staaten, die
der neue Kongreß Herrn Gladstone zu Gefallen ins Leben gerufen hätte, zwischen
den beiden Großmächten Oesterreich-Ungarn und Nußland oder doch in deren
Machtsphäre liegen würden. Die Frage wäre also ihrer Lösung um keine"
Schritt näher gekommen. England könnte es nicht verhindern, wenn die genannten
Großstaaten ihren Einfluß auf jene ihre kleinen Nachbarn spielen ließen, was
selbstverständlich sofort geschehen würde; es könnte nichts dagegen thun, wenn


indem sie die in Berlin vorgesehenen Reformen durchführe, und zwar unter
Aufsicht einer internationalen Commission. Sollte die Pforte darauf nicht ein¬
gehen, so würde England die europäischen Großmächte zu einer neuen Konferenz
einladen, welche Maßregeln zur Sicherung des Friedens zu ergreifen hätte. Wäre
eine Verständigung aller dieser Mächte nicht zu erreichen, so würde man von
London aus versuchen, eine Vereinigung derjenigen von ihnen, welche den dort
gehegten Meinungen und Wünschen günstig wären, zur Verwirklichung der
letzteren, bei der im Nothfalle Gewalt anzuwenden wäre, zu Stande zu bringen.

Hiernach bestände die Politik, die das neue englische Cabinet hinsichtlich
der Balkanländer im Auge hätte, im letzten Grunde in dem Plane, die von
Gladstone und seinen Amtsgenossen als bereits todt oder doch dem Tode ganz
nahe betrachtete Türkei unverzüglich von den im Reiche wohnenden Nationen
beerben zu lassen. Das kann sehr menschenfreundlich gemeint sein und paßt
auch ganz vortrefflich in die liberale Schablone, zeigt aber nicht von staats¬
männischem Scharfsinn und guter Kenntniß der Verhältnisse. Setzen wir den
Fall, daß sich für den Anfang Alles nach den Wünschen des englischen Premiers
gestaltet, daß die Großmächte, nachdem die Türkei van xossnnius gesagt hat,
sich allesammt für einverstanden mit jenen edeln Intentionen erklären, daß sie
— etwa in Berlin — einen Ergänzungs- und Weiterbildungs-Congreß abhalten,
und daß dieser sich über die an den Sultan zu richtenden Forderungen und
das demselben gegenüber weiter einzuschlagende Verfahren einigt, falls die Pforte
bei ihrem non xossumus verharrt. Man stellt die Unfähigkeit der Türkei weiter
zu leben fest und zerschlägt das osmanische Reich in Kleinstaaten, die sich nach
ihres Herzens Begehr selbst regieren dürfen. Neben Rumänien, Serbien und
Montenegro, die schon vorhanden sind, werden ein Fürstenthum Bulgarien, das
bis an das Aegeische Meer sich erstreckt, wie es der Vertrag von San Stefano
haben wollte, ein Fürstenthum Albanien und ein Großgriechenland geschaffen, den?
Thessalien und ein Stück von Macedonien zugetheilt werden. Herr Gladstone
wäre also befriedigt, er hätte erreicht, was ihm vorgeschwebt. In Wahrheit
hätte er dann, ganz abgesehen davon, daß, wie Bulgarien genügend gezeigt hat,
die Balkanvölker sich nicht selbst regieren können, sondern langsam, dadurch, daß
man sie theilweise befreit, zum Gebrauche der Freiheit erzogen werden müssen,
wie der Isroxs sehr verständig hervorhob, nur das eine erreicht, daß die Staaten, die
der neue Kongreß Herrn Gladstone zu Gefallen ins Leben gerufen hätte, zwischen
den beiden Großmächten Oesterreich-Ungarn und Nußland oder doch in deren
Machtsphäre liegen würden. Die Frage wäre also ihrer Lösung um keine»
Schritt näher gekommen. England könnte es nicht verhindern, wenn die genannten
Großstaaten ihren Einfluß auf jene ihre kleinen Nachbarn spielen ließen, was
selbstverständlich sofort geschehen würde; es könnte nichts dagegen thun, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/458>, abgerufen am 22.07.2024.